Bereicherung oder Zerstörung einer Stadt durch die Kunst? Entwicklung und Geschichte der Biennale im Kontext der Historie und des Massentourismus Venedigs
Von Sophie Rosch
Historischer Überblick der Venedig Biennale
Um das heutige Modell der Venedig Biennale zu verstehen, ist es wichtig ihre Entwicklung auf historischen Ereignissen basierend zu beleuchten.
Die Biennale Venedigs gilt als die „Mutter“ aller Biennalen.[1] Hierbei handelt es sich um eine im Turnus von zwei Jahren stattfindende internationale Kunstausstellung für moderne und zeitgenössische Kunst, die etwa ein halbes Jahr in Venedig gastiert. In den letzten Jahren nimmt die Bekanntheit der Venedig Biennale, die sich bereits in ihren Anfängen grosser Beliebtheit und ausgezeichneten Prestiges erfreuen konnte, stetig zu. Die Besucherzahlen stiegen 2017 bei der 57. Biennale auf circa 615.000 Personen und auch die Ausstellungen umfassen immer grössere Bereiche der Stadt.[2]
Die erste Venedig Biennale fand 1895 statt – unter dem Einfluss und Eindruck von Aufklärung und Industrialisierung. Zu dieser Zeit werden die ersten Nationalstaaten gegründet, weshalb der Fokus der Ausstellungen nicht nur auf den Kunstwerken an sich liegt, sondern diese auch ein politisches Interesse zur „vorurteilsfreien Entwicklung des Geistes“ und „brüderlichen Vereinigung aller Völker“ verfolgen.[3] In diesem Sinne wurde die Biennale zum einen genutzt, um die neue gemeinsame kulturelle Identität im Inneren zu stärken und friedlich zu repräsentieren, aber auch um nach Aussen politische Beziehungen widerzuspiegeln.[4] Die neuen technischen Möglichkeiten bezüglich Fortbewegung steigerten die allgemeine Reiselust in der Anfangsphase der Biennale, was als einer der Grundsteine von deren Beliebtheit betrachtet werden kann.[5] In den ersten Jahren der Biennale beschränkte sich der Ausstellungsort insbesondere auf den Giardini di Castello. Um die Biennale herum wurden bereits in den Anfängen weitere Aktivitäten und Attraktionen organisiert, die die Besucher auch ausserhalb der Ausstellung zusätzlich unterhalten sollten.
1907 baute Belgien als erste Nation einen Nationalpavillon, dem in den nächsten Jahren noch viele weitere folgen sollten. Bei den besagten Pavillons, die sich alle im Giardini di Castello befinden, handelt es sich um permanente Bauten, die auch in der ‘biennalefreien’ Zeit in Venedig bestehen bleiben, während andere Pavillons in anderen Teilen der Stadt nur temporär erbaut werden.[6]
Die Biennale wurde nur während der beiden Weltkriege unterbrochen.[7] Durch die Weltkriege und vor allem vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Nationalsozialismus entwickelte sich vor allem in Europa eine neue kritisch eingestellte Mentalität gegenüber jedem Nationalbewusstsein.
Zusätzlich entwickelte sich nach dem 2. Weltkrieg die Globalisierung weiter, also die Vernetzung des grössten Teils der Gesellschaft. Diese wirkte sich nicht nur auf die Biennale aus, sondern förderte eine generell weltoffenere und pluralistischere Weltansicht. In der Kunst versuchte man, die nationalstaatlichen Grenzen verschwimmen zu lassen und sich mit universalen Problemen auseinanderzusetzen. Dies gelang und gelingt auch dadurch, dass Künstler unterschiedlicher Nationen innerhalb unterschiedlicher Nationalpavillons ausstellen dürfen. Somit rückte man Kritik und Diskussionen bezüglich gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Gegebenheiten durch Kunst in verschiedenen Ländern in den Vordergrund.[8]
Bei der letzten und auch meistbesuchten Biennale 2017 Viva Arte Viva, kuratiert von Paolo Baratta, nahmen über 120 Künstler verschiedenster Nationen teil und die Biennale ist seit Jahren nicht mehr einzig auf den Giardini beschränkt, sondern fand in der ganzen Stadt statt. Zusätzlich gab es in der Zeit der Biennale 23 begleitende Veranstaltungen, was nochmals die sich ausweitende Dimension der Biennale verdeutlicht.[9] Auch die Teilnahme unterschiedlicher Nationen aus aller Welt und die Darstellung nationaler Thematiken innerhalb eines internationalen Kontextes zeigen, dass sich die Biennale im Rahmen der Globalisierung mitentwickelt hat.
Architektonische Gegebenheiten Venedigs und das Problem des Massentourismus
Venedig. In etwa 30 Millionen Touristen pro Jahr, das heißt, 545 Touristen auf einen Einwohner, besuchen diese Stadt.[10] Jeder kennt Venedig aus diversen Romanen und Filmen, für die Venedig als Schauplatz fungierte. Mindestens genauso bekannt ist die Stadt aufgrund ihrer besonderen Architektur und für ihre Kunst, wie zum Beispiel Kunstausstellungen wie die Venedig Biennale.
Die Besonderheit der Architektur Venedigs liegt nicht nur in der Bauart der Häuser beziehungsweise Palazzos, sondern auch im Gesamtaufbau der Stadt. Venedig ist in einem einzigartigen natürlichen Umfeld errichtet und befindet sich genau zwischen Sumpfgebieten und Meer. Innerhalb einer Lagune wird die Stadt von Holzpfählen getragen, die unter Wasser im Boden befestigt sind.[11] Auf Grund dieser Besonderheit versinkt die Stadt mehr und mehr im Wasser und wird zunehmend von Überschwemmungen zerstört, von denen viele nicht auf natürliche Ursachen zurückzuführen sind, sondern von Menschen verschuldet sind.[12] [13]
So sind die Einfahrten für Öltanker und Kreuzfahrtschiffe in die Lagune in den letzten Jahren weiter ausgebaggert worden, sodass vermehrt Meerwasser in die Lagune eindringen kann und der Meeresspiegel in der Lagune steigt. Ein weiterer Grund, der den Wasseranstieg fördert, ist die globale Klimaerwärmung, weshalb sich die Zahl der Überschwemmungen seither häuft.[14]
Ein weiteres Problem stellen auch die einzelnen in der Lagune anlegenden Kreuzfahrtschiffe dar. Der Untergrund auf dem die Holzpfähle befestigt sind, besteht vor allem aus Lehm und Schlamm. Durch das Einfahren der riesigen Schiffe und die Bewegungen von deren grossen Schiffsschrauben wird eine Art Kolbeneffekt freigesetzt, durch den der Untergrund aufgewühlt und mit dem durch das Schiff verdrängte Wasser aus der Lagune hinaus ins offene Meer gespült wird.[15] Die Veränderungen des Wasserspiegels und der dadurch entstehende Wellengang wirken sich allerdings nicht nur auf die direkte Umgebung der Lagune aus, sondern auch auf umliegende Kanäle. Hier werden über einen längeren Zeitraum, verursacht durch die Strömungen und den wechselnden Wasserspiegel, Fundamente von Häusern abgetragen. Diese Häuser sacken dabei zum Teil ab, wodurch auch die Fassaden zerstört werden. Dadurch dass man sich auch innerhalb der Stadt nur zu Fuss oder über den Wasserweg in Booten und Gondeln fortbewegen kann, setzt sich das Wasser in den Kanälen ebenfalls in Bewegung, wodurch die Zerstörung der Hausfundamente nochmals verstärkt wird.
Ein weiteres Problem des Massentourismus besteht in der Umgestaltung der ökonomischen Gestalt und die Immobilienlage Venedigs. Die Infrastruktur für Einwohner verschlechtert sich zunehmend. So werden zum Beispiel Supermärkte und Märkte durch auf touristische Belange ausgelegte Restaurants und Boutiquen ersetzt, sodass Erstere zu wenige Einnahmen generieren.[16]
Zusätzlich wird der Vorwurf der Gentrifizierung auf Grund eines rasanten Anstiegs der Mietpreise für Einwohner laut. Viele Einheimische können sich keine Wohnungen und Häuser mehr leisten, weil viele Besitzer von Eigentumswohnungen diese überteuert vermieten, beispielsweise über das Unternehmen AirBnB nächte- und wochenweise. Hierbei wird den Eigentümern ermöglicht, die Wohnungen teilweise für mehrere hundert Euro pro Nacht zu vermieten, anstelle eines festen niedrigeren monatlichen Betrages, für langfristige Mieter. Dieser Profit ist durch feste Monatsmieten nicht zu erzielen. Abgesehen davon, dass die Mietpreise der direkt betroffenen Wohnungen steigen, gilt dies auch für die umliegenden Wohnungen, die eventuell noch langfristig vermietet werden, weil die Anwesenheit von Touristen anderes, neues Publikum anzieht und die gesamte Wohnlandschaft dadurch Veränderung und Aufwertung erfährt, was im Wechselspiel mit dem Abbau der Infrastruktur für die Einheimischen steht.[17]
Doch in welchem Kontext steht hierzu die Biennale?
Der Zeitraum der Biennale ist von vielen Kurzzeit-Besuchern geprägt, was bedeutet, dass bezüglich der oben genannten, kurzfristigen Vermietungen eine zusätzlich erhöhte Nachfrage besteht. Viele Menschen möchten für die Zeit ihres Aufenthalts innerhalb der Stadt wohnen, sowohl die Besucher der Biennale als auch deren Mitgestalter wie Künstler, Aussteller und Organisatoren. Die Pavillons der Kunstausstellung sind zu dieser Zeit in ganz Venedigs verteilt und auch unabhängig der Nationalpavillons werden ganze Ausstellungen in Palazzos und einzelne Werke organisiert und präsentiert. Durch die grossflächige Ausbreitung der Ausstellungen und Werke in der Stadt, werden auch Orte vermehrt besucht, die von Touristen normalerweise weniger Aufmerksamkeit erhalten. Die genannten Werke beinhalten häufig nicht nur einfache Bilder auf einer Leinwand, sondern können ganze Skulpturen umfassen, die in das Stadtbild integriert werden. Ein bekanntes Beispiel ist Lorenzo Quinns Skulptur Support , die unabhängig der Biennale 2017 von ihm ausgestellt wird. Hierbei handelt es sich um zwei Hände, die aus dem Wasser eines Kanals hinaus an einer Hauswand anlehnen und diese symbolisch stützen. In seinem Werk macht er auf die Gefahren des Klimawandels und dem Anstieg des Meeresspiegels durch den Massentourismus für die sinkende Stadt Venedig aufmerksam.
Hierbei könnte man eine gewisse Ironie feststellen. Während sich Ausstellungen und Werke der Biennale mit globalen und universalen Thematiken wie zum Beispiel dem zunehmenden Kapitalismus auseinandersetzen, wird im Vergleich wenig Fokus auf die lokale Problematik Venedigs gelegt. Wenn man die Situation sehr kritisch betrachtet, könnte man die Venedig Biennale sogar als Förderer des Massentourismus sehen. Viele Städte halten Biennalen gezielt, um auf internationaler Ebene mehr Aufmerksamkeit und Ansehen zu erzielen und so auch die Attraktivität der Stadt für Besucher zu steigern. Diese Strategie dieser Vermarktung einer Stadt fällt auch unter den Begriff ‘City Marketing’.[18] Allerdings ist jede Zunahme der Besucherzahlen Venedigs eine Gefahr für die Stadt und ihre Baustruktur, sowie auch für Bewohner der Stadt, denen wegen der schlechteren Angebote wie beispielsweise im Wirtschafts- und Immobiliensektor, wenige Grundlagen für ein Alltagsleben ausserhalb des Tourismus bleiben.
Das Prestige, das solche Ausstellungsformate einer Stadt einbringen, fördert die Attraktivität Venedigs für weitere Touristen. Allerdings ist Venedig auch unabhängig davon bekannt für den problematischen Massentourismus, der betrieben wird.
Die Biennale kann sicherlich als verstärkender Effekt auf die urbane und soziale Umgestaltung beziehungsweise Zerstörung einiger Stadtteile betrachtet werden. Aus diesem Grund wäre eine mögliche Strategie, den Massentourismus innerhalb der Biennale kritisch zu hinterfragen und beispielsweise eingenommene Gelder durch Verkäufe von Werken für Maßnahmen gegen das Versinken der Stadt durch den globalen Klimawandel und Tourismus – in diesem Fall gefördert von Kunst – zu verwenden und somit der Zerstörung der Stadt entgegenzuwirken.
[1] Vgl. Sara Catenacci 2010: Sara Catenacci, Beyond the Giardini of the Biennale: Some considerations on a supposed model, in: Starting from Venice, hrsg. von Clarissa Ricci, Milano 2010, S. 78.
[2] Vgl. La Biennale di Venezia 2017: La Biennale di Venezia, History, http://www.labiennale.org/en/history/recent-years. (aufgerufen am 13. Mai 2018).
[3] Selvatico in Vogel 2010: Selvatico inSabine B. Vogel, Biennalen – Kunst im Weltformat, Wien 2002, S. 12.
[4] Vgl. Vogel 2010: Sabine B. Vogel, Biennalen – Kunst im Weltformat, Wien 2002, S. 8 – 9.
[5] Vgl. ebd. S. 12 – 15.
[6] Vgl. Chilvers/Glaves-Smith 2015: Ian Chilvers und John Glaves-Smith, Biennale, A Dictionary of Modern and Contemporary Art (2015), http://www.oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780191792229.001.0001/acref-9780191792229-e-301. (aufgerufen am 14. Mai 2018).
[7] Vgl. La Biennale di Venezia 2017: La Biennale di Venezia, History, http://www.labiennale.org/en/history/beginnings-until-second-world-war. (aufgerufen am 13. Mai 2018).
[8] Vgl. Vogel 2010: Sabine B. Vogel, Biennalen – Kunst im Weltformat, Wien 2002, S. 21 –22.
[9] Vgl. La Biennale di Venezia 2017: La Biennale di Venezia, History, http://www.labiennale.org/en/history/recent-years. (aufgerufen am 13. Mai 2018).
[10] Vgl. Weber & Zahn 2017: Weber Anna-Lena, Zahn Philipp, Deutsche Welle, Zu Viele Touristen in Venedig, http://www.dw.com/de/zu-viele-touriste n-in-venedig/l-41484723. (aufgerufen am 30. Mai 2018).
[11] Vgl. Plant 2002: Margaret Plant, Venice, Fragile City 1797-1997, New Haven und London 2002, S. 429.
[12] Vgl. ebd. S. 426.
[13] Vgl. Polaczek 2003: Dietmar Polaczek, Kommandoaktion Moses: Wie Venedig Für Immer Vor Hochwasser Sicher Gemacht Werden Soll, in: Du:: Die Zeitschrift Der Kultur, 63 (733), S. 77.
[14] Vgl. Kerner 2017: Regina Kerner, Frankfurter Rundschau, Der Kampf gegen das Wasser, http://www.fr.de/panorama/venedig-der-kampf-gegen-das-wasser-a-1409183. (aufgerufen am 31. Mai 2018).
[15] Vgl. Weber & Zahn 2017: Weber Anna-Lena, Zahn Philipp, Deutsche Welle, Zu Viele Touristen in Venedig, http://www.dw.com/de/zu-viele-touriste n-in-venedig/l-41484723. (aufgerufen am 30. Mai 2018).
[16] Vgl. Polaczek, 2003: Dietmar Polaczek, Kommandoaktion Moses: Wie Venedig Für Immer Vor Hochwasser Sicher Gemacht Werden Soll, in: Du: Die Zeitschrift Der Kultur, 63 (733), S. 77.
[17] Vgl. Kasiske 2017: Andrea Kasiske, Deutsche Welle, Venedig wehrt sich gegen AirBnB, http://p.dw.com/p/2kmvt. (aufgerufen am 30. Mai 2018).
[18] Vgl. Sheikh 2009: Simon Sheikh, Marks of Distinction, Vectors of Possibility: Questions for the Biennial, in: The Biennal Reader: An Anthology on Large-Scale Perennial Exhibitions of Contemporary Art, hrsg. von Filipovic u.a., Ostfildern 2010, S. 150 – 163.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 (Beitragsbild): Kreuzfahrtschiff im Hafen Venedigs, 2007, Foto: Peter Weideli (privat).
Abb. 2 : Kanal mit Boot, Venedig, 2007, Foto: Peter Weideli (privat).
Abb. 3 : Boote fahrend im Kanal, Venedig, 2007, Foto: Peter Weideli (privat).
Abb. 4 : Haus mit bröckelnder Fassade, Venedig, 2007, Foto: Peter Weideli (privat).