Francis Alÿs Interventionen im öffentlichen Raum
Von Sarah Rageth
Die Mitte von Mexiko-Stadt, der Platz Zócalo bildet als ein politisch repräsentativer und historisch relevanter Ort einen zentralen Knotenpunkt der Stadt. An den Platz angrenzend befinden sich neben dem Sitz des Präsidenten und dem Rathaus die Überreste des aztekischen Tempels Templo Mayor und daneben gleich die Catedral Metropolitana . Mexiko-Stadt wurde im 16. Jahrhundert als Hauptstadt Neu-Spaniens auf der zerstörten aztekischen Stadt Tenochtitlán errichtet. Beim Wiederaufbau orientierten sich die spanischen Architekten am bereits vorhandenen Stadtgrundriss und dessen zentralen Ausrichtung.[1] Die Gründung der Hauptstadt der Azteken beruht auf einem Mythos, nach dem sich die Siedler einer Prophezeiung zufolge dort niederlassen sollten, wo sie beobachten konnten, wie ein Adler eine Schlange verzerrte.[2] Im 20. Jahrhundert fanden dann vermehrt Bemühungen statt, die aztekische Stadtgeschichte aufzuarbeiten. Vor allem mit der Entdeckung des Templo Mayor im Jahr 1978 fand eine Neuformulierung und Historisierung des Zócalo statt.[3] Diese Unmittelbarkeit von Stadtgeschichte und -mythos prägt den Platz und konstruiert ihn als Raum der Erzählung.[4]
Die Umformulierung des öffentlichen Raumes
Auf dem Zócalo herrscht in der Folge der Allgegenwärtigkeit der Aztekenkultur eine lebendige Tradition gegen repressive, homogen entworfene Systeme richtet.[5] Sie wird in alltäglichen Aneignungsprozessen der Bevölkerung sichtbar, denen jedoch die Architektur des öffentlichen Platzes augenscheinlich entgegenwirkt. Der Platz gilt als unwirtlicher Ort, der den Städter*innen weder Schattenplätze noch Sitzgelegenheiten spendet.[6] Dazu ist der Zócalo, umgeben von politischen Kräften und als kirchliches und touristisches Zentrum, das Abbild von beengenden urbanen Strukturen.[7] Währendem sich die symbolische Rolle des Ortes verstärkt und er funktional und einheitlich ausgebaut wird, verschieben sich heterogene urbane Prozesse, wie die für den öffentlichen Raum fundamentalen sozialen Begegnungsmöglichkeiten, weg vom Zócalo.[8] In diesen Spannungen zwischen repräsentativer und sozialer Bedeutung wird die Problematik wiedergespiegelt, die der öffentliche Raum zu überwinden hat, um sich selbst gerecht zu werden.[9]
Francis Alÿs hingegen vermittelt in seinen Arbeiten ein provisorisches und dynamisches Bild der Stadt und schafft es so, öffentliche Räume wiederzubeleben.[10] Dies tut er indem er zum Einen alternative Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen Raumes hervorhebt, die sich abseits von funktionalen Zuordnungen ergeben, und zum Anderen, indem er die Stadt als ein Raum, der mit historischen Praktiken, also Geschichten und Erfahrungswerten, angereichert ist.[11] In seinen Interventionen umgeht er erstarrte urbane Strukturen spielerisch durch die Etablierung eines eigenen Raumes, der sich aus Erinnerungen und Erlebtem zusammensetzt und so die Bedeutung der städtischen Mythenbildung hervorhebt.[12] Diese narrative Dimension seiner Arbeiten zeigt sich beispielsweise in Alÿs Aktion The Rumour, die 1997 in der Kleinstadt Tlayacapan stattfand. Alÿs setzte ein Gerücht in Umlauf, wonach eine Person in der Nacht zuvor aus einem Hotelzimmer verschwunden und nicht mehr zurückgekehrt sei. Das fiktive Gerücht verbreitete sich unter der Bevölkerung und nahm schliesslich reale Ausmasse, als die Polizei wenige Tage später eine Vermisstenmeldung veröffentlichte. Fundamentale Voraussetzung zum Erfolg der Aktion, nämlich der Verbreitung des Gerüchts, ist die Begegnung der Menschen. Alÿs stellt also die soziale Wirkmacht des öffentlichen Raumes wieder her und zeigt, wie die Produktion von Erzählungen innerhalb einer städtischen Gemeinschaft ein fundamentales Element des sozialen Zusammenhalts darstellt.[13]
Mithilfe dieser narrativen Strategie schafft es Alÿs, imaginäre Bilder im Stadtraum zu schaffen und neue räumliche Beziehungen herzustellen.[14] In diesem Sinne beschreibt der Philosoph Michel de Certeau die räumliche Praxis der Geschichtenerzählung, die den Stadtraum durchdringt und ihn organisiert. Die Geschichten, die sich aus Erlebnissen der Stadtbewohner zusammensetzen, transformieren Orte und Plätze in dynamische und heterogene Räume.[15] Der Zócalo bietet somit durch seine bereits vorhandene narrative Dimension ein ideales Spielfeld für Alÿs Umformulierung des öffentlichen Raums.
“Can an absurd act provoke a transgression that makes you abandon the standard assumptions about the sources of conflict? Can an artistic intervention translate social tensions into narratives that in turn intervene in the imaginary landscape of a place?“ – Francis Alÿs [16]
Wie bereits erwähnt, ist eine wichtige Funktion des Zócalo die des politischen Repräsentationsortes. Mitunter nach der mexikanischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Platz zum zentralen Ort der Staatsmacht, wovon unteranderem die neokoloniale Architektur zeugt. In den 1950er Jahren verstärkte sich dieser rigide Eindruck, als eine strenge Regulierung der Aktivitäten im öffentlichen Raum eingeführt wurde. Das historische Zentrum, wo sich der Zócalo befindet, galt bis dahin als Vergnügungsviertel mit einem lebendigen Nachtleben, das schliesslich verdrängt wurde. So wurde auch der auf dem Zócalo angelegte Garten entfernt und durch eine graue Betonfläche ersetzt, die sein heutiges Erscheinungsbild prägt. Die offene Fläche des Platzes ist heute zum Einen prädestiniert für Demonstrationen und Versammlungen, zum Anderen jedoch auch ein Ort der Repression, dessen Architektur Kontrolle und Überwachung besonders leicht macht.[17]
Diese Symbolik des Platzes thematisiert Alÿs in Cuentos Patrióticos, übersetzt ¸patriotische Märchen’. Er erzählt das historisches Ereignis des Studenten- und Beamtenprotests nach, der 1968 auf dem Zócalo stattfand. Während jener studentischen Kundgebung organisierte die Regierung eine Gegendemonstration, wozu sie Beamte auf den Platz orderte. Die Beamten richteten sich jedoch in einer spontanen Aktion mit dem Rücken gegen das Regierungsgebäude und begannen, wie Schafe zu blöken. In Alÿs Aktion im Jahr 1997 dreht der Künstler Runden um den monumentalen Fahnenmast, der in der Mitte des Platzes als gigantisches Machtsymbol platziert wurde. Ihm folgt eine Schafherde, die mit jeder Runde grösser wird.[18] Die Schafe repräsentieren eine animalische Präsenz, die aus dem Stadtraum im Zuge der Bestreben nach Ordnung und Hygiene verbannt und marginalisiert wurde.[19] Mit der Rückführung der Tiere in den Stadtraum bringt Alÿs Unruhe und destabilisiert den scheinbar kohärent wirkenden Zócalo, genauso, wie es die spontane Aktion der Beamten tat.[20] Mithilfe der Geschichte und des Animalischen überschreibt der Künstler die politische Symbolkraft des Zócalo und ersetzt diese durch die Nacherzählung einer Begebenheit, die den Zusammenhalt der städtischen Gemeinschaft demonstriert hat. Alÿs poetische Geste wird zu einem politischen Statement gegen Repression und Zwang.
Inoffizielle Erzählungen des Alltags
Eine zentrale urbane Praxis, die sich auf dem Zócalo durchgesetzt hat und die im Gegensatz zu den Staatspalästen die Heterogenität und Komplexität der Stadt wiederspiegelt, ist der Strassenhandel. Ein grundlegendes Merkmal dieser Praxis ist die räumliche Aneignung, die der Bevölkerung damit zuteil wird. Als informeller Wirtschaftssektor, der von der Stadtregierung seit den achtziger Jahren bekämpft wird, vertritt der Strassenhandel einen inoffiziellen Alltag, der von marginalisierten Bevölkerungsschichten ausgeübt wird.[21] Dieses Thema nimmt Alÿs in Turista (Abb. 2) aus dem Jahr 1994 auf. Neben den Handwerkern, die täglich auf dem Zócalo stehen und ihre Dienste anbieten, pries Alÿs seine Fähigkeiten als Tourist an. Einerseits zeigt sich Alÿs mit dieser Aktion solidarisch zu den Arbeitern, indem er sein Dasein als Aussenseiter in einem normativen Stadtleben hervorhebt.[22] Andererseits macht er die Überlebensstrategie einer Minderheit sichtbar und schafft so eine “produktive Differenzerfahrung“.[23]
So bezeichnet Alÿs das historische Zentrum Mexiko-Citys, das sein Hauptarbeitsfeld darstellt, als einen cour des miracles. Der Begriff stammt aus dem 17. Jahrhundert und bezeichnet das erste Arrondissement in Paris, das damals die städtische Unterwelt beherbergte. Später wurde diese durch die massive Umgestaltung der Stadt durch Georges-Eugène Haussmann verdrängt.[24] Für Alÿs ergeben sich also aus diesem Umfeld, in dem ein alternativer Alltag gelebt wird, fabelhafte Geschichten, mit denen er die im ersten Moment verzweifelt wirkenden Lebensumstände der Betroffenen transformiert, sie lebenswerter macht und ihre Relevanz für städtische Lebensformen und die Gemeinschaft sichtbar macht. So zeigen Alÿs Aufnahmen der Serie Sleepers (Abb. 3) Menschen ohne Obdach, die gezwungen sind auf der Strasse zu schlafen und deren private Nutzung und Aneignung des städtischen Raumes. Die Fotografien vermitteln so das Bild einer Stadt, die sich heimisch anfühlen kann, und ermöglichen so ein Umdenken des urbanen Zusammenlebens.[25]
Der Zócalo als Zwischenraum
Alÿs Interventionen zeigen einen Entwurf der Stadt als Sammelpunkt eines kollektiven Potenzials, das eine urbane Struktur hervorbringt, die nicht durch städtebauliche oder politische Regulation geprägt ist, sondern von einer alltäglichen Poetik, das über hegemoniale Strukturen hinausgeht.[26] Dieses poetische Potential macht der Künstler durch Einblicke in den gelebten Raum sichtbar, ein urbaner Zwischenraum der flüchtig jedoch auch selbstbestimmt wirkt.[27] Dies wird in Alÿs zwölf stündigem Video Zócalo (Beitragsbild) deutlich. Auf den Aufnahmen sieht man eine Menschenformation, die sich in den Schatten des kolossalen Fahnenmasts stellt und sich im Verlauf des Tages mit der Bewegung der Sonne um den Mast herum bewegt.[28] Der Mast bildet der einzige Orientierungspunkt auf dem ansonsten leeren und kargen Platz und hat sich so als Treffpunkt etabliert. Ein Podest, das beim Bau des Mastes zu Beginn noch vorhanden war, wurde abgebaut, da sich Leute daraufsetzten, was von der Regierung als eine unerwünschte Raumaneignung angesehen wurde.[29] So ergab sich schliesslich diese Formation aus Menschen, die sich heute an sonnigen Tagen in einer Reihe hinter den Mast stellen, so eine spontane Choreographie bilden und den Raumbegebenheiten trotzen. Die Fahnenzeremonie, die jeden Morgen stattfindet und aufwendig mithilfe von Lautsprecheranlagen und samtenen Podesten aufgeführt wird, wurde von Alÿs während diesen Aufnahmen auch gefilmt.[30] Auf diese Weise stehen sich politisches Spektakel und poetische Alltagsgeste entgegen und der Mast, der als Machtsymbol die Strenge und den repressiven Charakter des Platzes verstärken sollte, wird Teil einer alternativen Stadterzählung. In Alÿs Aktionen wird der Zócalo transformiert, ein öffentlicher Platz, der seit jeher politisch zur Festigung einer nationalen Identität umgestaltet wurde. Der Künstler ersetzt Identität durch Erzählungen und Erfahrungswerte aus dem Alltagsleben und trägt so zu einem heterogenen und komplexen Bild der Stadt bei, die einer breiteren Bevölkerung zu Gute kommt.
[1] Vgl. Wildner, Kathrin: Zócalo – die Mitte der Stadt Mexiko: Ethnographie eines Platzes, Berlin 2003, S. 53-55.
[2] Vgl. Noelle, Louise: Mexico City: From the Myth to the Megalopolis, in: Felipe Correa und Carlos Garciavelez Alfaro (Hrsg.), Mexico City: Between Geometry and Geography. Entre Geometría y Geografia, Novato 2014, S. 123.
[3] Vgl. Wildner 2014, S. 70.
[4] Vgl. ebd., S. 87.
[5] Vgl. Kästli, Monika: Widerständige Geschichten: Aktionen und Projekte von Francis Alÿs, München 2015, S. 50.
[6] Vgl. Wildner 2014, S. 146.
[7] Vgl. Alÿs, Francis und Lampert, Catherine: The Prophet and the Fly, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 2003, S. 32.
[8] Vgl. Deutsche, Rosalyn: Alternative Space, in: If You Lived Here. The City in Art, Theory, and Social Activism. A Project by Martha Rosler, hrsg. von Martha Rosler und Brian Wallis, New York 1999, S. 46.
[9] Vgl. Miles, Malcolm: Limits to Culture. Urban Regeneration vs. Dissident Art, London 2015, S. 116.
[10] Vgl. Kästli 2015, S. 21.
[11] Vgl. Kwon, Miwon: Dogs and the City, in: Francis Alÿs – A Story of Deception, hrsg. von Mark Godfrey und Francis Alÿs, Ausst.-Kat. London 2010, S. 181.
[12] Vgl. Kästli 2015, S. 26.
[13] Vgl. Alÿs, Francis und Godfrey, Mark (Hrsg.): Francis Alÿs – A Story of Deception, Ausst.-Kat. London 2010, S. 89.
[14] Vgl. Careri, Francesco: The Storyteller, in: Francis Alÿs – A Story of Deception, hrsg. von Mark Godfrey und Francis Alÿs, Ausst.-Kat. London 2010, S. 183.
[15] Vgl. De Certeau, Michel: The Practice of Everyday Life, Berkeley 1988, S. 115-117.
[16] Francis Alÿs zit. nach Platt, Edward: Telling stories with a life of their own, in: Tate Etc. (19), 5/2010, URL: http://www.tate.org.uk/context-comment/articles/telling-stories-life-their-own [Stand 22.04.2018].
[17] Vgl. Wildner 2014, S.155-157.
[18] Vgl. Ausst.-Kat. London 2010, S. 85.
[19] Vgl. Kwon 2010, S. 181.
[20] Vgl. Weier, Sabine: Francis Alÿs: Immer unterwegs, in: SchirnMag, 6/2014, URL: http://www.schirn.de/magazin/kontext/francis_alys_immer_unterwegs/ [Stand 18.04.2018] und De Certeau 1988, S. 116.
[21] Vgl. Wildner 2014, S. 125-127.
[22] Vgl. Ausst.-Kat. London 2010, S. 61.
[23] Vgl. Kästli 2015, S. 23.
[24] Vgl. ebd., S. 30.
[25] Vgl. Ausst.-Kat. London 2010, S. 96.
[26] Vgl. ebd., S. 100.
[27] Vgl. Kästli 2015, S. 33.
[28] Vgl. Ausst.-Kat. London 2010, S. 100.
[29] Vgl. Wildner 2014, S. 146-147.
[30] Vgl. ebd., S. 152.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 (Beitragsbild): Antony Stanley, Zócalo, Mexico City, 17. November 2007, Fotografie: öffentlich. Aus: URL https://www.flickr.com/photos/antonystanley/2105552839/in/photostream/ (abgerufen am 18. Juni 2018).