Von Claudia Volkart
Das im Norden Zürichs gelegene Stadtquartier Oerlikon war einst ein Dorf. Erst seit 1934 ist es offiziell Teil des urbanen Raums Zürich.[1] Neben meinem Studium fahre ich mehrmals in der Woche von 17 Uhr bis 22 Uhr auf den Strassen von Oerlikon/Seebach mit einem kleinen Spitexauto meine Touren ab. Spitex steht für spitalexterne Hilfe und Pflege. Von Beruf bin ich Pflegefachfrau. Oerlikon habe ich somit auf festgelegten Pfaden kennengelernt. Einerseits spielen die geteerten Strassen eine grosse Rolle, dem Navigationssystem folgend fahre ich von Adresse zu Adresse, andererseits betrete ich Welten, die zur Stadt gehören, jedoch nicht für jedermann zugänglich sind, es sind private Räume im urbanen Raum. Gabriela Muri und Sabine Friedrich schreiben im Zusammenhang mit der Entwicklung dieses Stadtteils: „Der dörfliche Charakter, den die Bewohner noch bis in die 1970er-Jahre als das identitätsbildende Merkmal betonen, ist nur in einigen wenigen Teilen und in den Köpfen der alteingesessenen Oerliker Bewohnerschaft erhalten geblieben.“[2] Viele KundInnen gehören zu dieser älteren Gruppe.
Weit davon entfernt das Stadtquartier, das offiziell zum Stadtkreis 11 gehört, gut zu kennen, stellte ich mir in der Rolle der Ethnologie- und Kunstgeschichtsstudentin die Frage, wie der öffentliche Raum in Oerlikon abseits meiner Arbeitspfade gestaltet ist. Um einen Eindruck zu erhalten, entschied ich mich mittels der Methode des Umherschweifens (dérive) die Stadt zu erkunden. Diese Technik wurde von der avantgardistischen Gruppe der Situationistischen Internationalen in den 1960er systematisiert. Das Umherschweifen unterscheidet sich vom Spaziergang oder von einer Reise durch den Verzicht auf bekannte „Bewegungs- bzw. Handlungsmotive.“ [3] Es zielt weniger auf das Erfassen der Funktionalitäten der urbanen Räume, sondern deren Psychogeografie, also der „Wirkungen, seien sie bewusst gestaltet oder nicht, […] auf das emotionale Verhalten der Individuen.“[4]
Aus dem Herumschweifen resultierte eine grobe, subjektive Einteilung Oerlikons in drei psychogeographische Zonen: die Zone des Spektakels, die bürgerliche Wohnzone und das ,Moderne‘ Wohn- und Arbeitsgebiet. Die Zonen und Wege wurden auf einer Karte eingezeichnet (Beitragsbild). Was auf einem Stadtplan nicht darstellbar ist, versucht monochrom aufgenommenes Filmmaterial zu ergänzen, das zu einem kurzen Film zusammengeschnitten wurde. Wie Michel de Certeau feststellte „Bei der Aufzeichnung von Fusswegen [auf Stadtplänen] geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens.“[5] Die Schwarz-Weiss-Einstellung wurde gewählt, um daran zu erinnern, dass Filme keine objektive Realität abbilden. Es sind subjektive Ausschnitte des Raumes. Eine ergänzende Literaturrecherche zu Oerlikon folgte erst im Anschluss des Umherschweifens.
Verkürztes Protokoll des Umherschweifens
Zone des Spektakels
Begonnen habe ich mein Umherschweifen im Zentrum des Spektakels. Das Hallenbad, die Eisbahn, das Messezentrum (Abb. 2), das Hallenstadion, die alte Rennbahn und das Theater liegen alle nahe beieinander. Dieser Ort ist mit den öffentlichen Verkehrsmitteln einfach zu erreichen. Die Gebäude haben ein ausgeprägtes Fassungsvermögen. Hier wird erfahrungsgemäss in Massen Erlebnis konsumiert. Kleinere und grössere Menschenmengen besuchten laute Konzerte, spannungsgeladene Eishockeyspiele und informative Messen. Der innoffizielle Wortführer der Situationistischen Internationalen Guy Debord hat das Spektakel durchgehend negativ definiert. Er verband das Spektakel mit Passivität und schrieb ihm Bilder- und Vorstellungsproduktionen zu, die als Realitätsersatz fungieren.[6]
Als ich um 11 Uhr werktags zwischen den grossen Erlebniszentren vorbeilief, war nichts los, nur der Verkehr. Der pulsierte im Rhythmus der Ampeln und dominierte akustisch meine Aufnahmen. Das Zentrum des Spektakels ist auch ein Durchgangsraum. Nicht nur motorisierte Fahrzeuge, auch Personen auf dem Fahrrad oder FussgängerInnen zogen an mir vorbei. Das Hallenstadion betrachtend, schwelgte ich in Erinnerungen, positive wie negative. De Certeau bemerkte hierzu passend: „Verblüffend […] ist, das lebendig wahrgenommene Orte so etwas wie die Gegenwart von Abwesendem sind.“[7]
An der grossen Kreuzung zwischen der Wallisellenstrasse und der Thurgauerstrasse fand die erste Begegnung mit einem Kunstwerk im öffentlichen Raum zufällig statt. „Du musst jetzt“ stand da am Gebäude des Tramdepots geschrieben. Von einem anderen Winkel betrachtet las ich an der gleichen Stelle „nach Hause gehen.“ Ohne zu wissen, von wem und mit welcher Wirkungsabsicht die auf Dreiecksprismen angebrachte Schrift gestaltet wurde, fragte ich mich, wer wohl nach Hause muss? Aufgebrachte Hockeyfans? Kreischende Groupies?
Das Thema Konsum ist allgegenwärtig und bringt durchaus die Gefahr der Abstumpfung und Passivität mit sich, soweit stimme ich dem Situationistischen Internationalen Gedankengut zu. Selbst der neu ausgebaute Bahnhof besitzt neuerdings Einkaufspassagen. Die Bauarbeiten dauerten sieben Jahre an. Für die Gleiserweiterung wurde sogar das ehemalige Direktionsgebäude der MFO um sechzig Meter versetzt.[8]
Beim Durchqueren des Ortskerns, wo die Einkaufsläden, Apotheken, Post, Bank, Restaurants und ein hochragendes Hotel stehen, fiel mir auf, dass die Menschen, jung und alt, den Raum nicht nur durchqueren, um einen anderen zu erreichen oder um zu konsumieren, sondern sich da auch treffen und austauschen. Obwohl ich das Zentrum Oerlikons gleichfalls zur Zone des Spektakels zähle, unterscheidet es sich vom erst beschriebenen Zentrum des Spektakels. Das wurde mir besonders deutlich, als ich an einem Mittwoch um sieben Uhr in der Früh auf dem Marktplatzt stand und dem Treiben auf dem Wochenmarkt zusah; am gleichen Ort den Herrschaften an einem sonnigen Nachmittag beim Schachspielen zuschaute und um zehn Uhr vormittags in einem Café die älteren Damen beim Kaffeetrinken beobachtete. Hier werden sichtbar Beziehungen gelebt.
Bürgerliche Wohnzone
Um den grossen Verkehrspfaden zu entkommen, bin ich auf schmale Wege ausgewichen. Es wurde zunehmend ruhiger und akustisch nahmen die Vögel überhand. Unterbrochen wurde das bunte Zwitschern hie und da von Baustellenlärm. Die neu betretene Zone nenne ich bürgerliche Wohnzone (Abb. 3). Mehrere junge Frauen mit Kinderwagen, drei Bauarbeiter, zwei Postboten, vereinzelte Spaziergänger und eine kleine Gruppe von Schülern auf dem Heimweg habe ich wahrgenommen. Architektonisch wird die Zone von älteren und neueren Einzelhäuschen mit beschaulichen Vorgärten sowie kleineren Wohnblöcken dominiert. An mehreren Kinderhorten, Kindergärten und Schulhäuser bin ich zügig vorbeigelaufen.
Constants Nieuwenhuys, der für gut zwei Jahre bei der Situationistischen Internationalen Mitglied war, sind solche Wohngegenden, genauso wie die grossen Wohnblöcke, wohl ein Graus gewesen. In einem Essay, der in der Zeitschrift der Situationistischen Internationale veröffentlicht wurde, äusserte er sich sehr kritisch gegenüber der damaligen Stadtentwicklung: „In den neugebauten Vierteln beherrschen zwei Themen alles: der Autoverkehr und der Komfort zuhause. Sie sind die erbärmlichen Ausdrucksformen des bürgerlichen Glücks, und jedes Interesse am Spiel fehlt ihnen.“[9] Die Strasse ist tatsächlich zugeparkt mit Fahrzeugen. Freie Parkplätze sind in ganz Oerlikon schwer zu finden, was ich mit meinem kleinen Spitexauto immer wieder feststellen muss. Doch als erbärmlich kann ich die angetroffene bürgerliche Wohngegend nicht bezeichnen. Die Häuser repräsentieren verschiedene Bauepochen und -moden. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft stehen unsystematisch und irgendwie angenehm bunt nebeneinander.
,Modernes‘ Wohn- und Arbeitsgebiet
Auf der anderen Seite der Gleise befindet sich Neu-Oerlikon. Einzelne Spuren einer ehemaligen Industrieanlage sind sichtbar (Abb. 3), wie der alte Backsteinkamin, den man stehenliess. Prominent siedelte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) nach dem Ausbau der Bahnverbindung Zürich-Winterthur hier an.[10] Heute zeugen nur noch vereinzelte Bauten vom ehemals produzierenden Gewerbe. „Angesichts der Notwendigkeit, ganze Städte schnell zu bauen, ist man dabei, Friedhöfe aus Stahlbeton aufzustellen, in denen sich grosse Bevölkerungsmassen zu Tode langweilen müssen.“[11] Was Constant 1959 beschrieb, könnte genauso gut in einer zeitgenössischen Kritik stehen. In dieser Zone ist kaum mehr etwas alt. Gerade Linien und flache Ebenen beherrschen das Bild. Gebäudeblöcke soweit das Auge reicht. Alles ist geordnet und diszipliniert. Die Funktion jeden Ortes ist klar definiert. Hier ist der Park, da dürfen Kinder spielen, dort Erwachsene sich ausruhen – da drüben im Gebäudeblock wird gearbeitet, auf der anderen Seite, in einem anderen Kasten, geht man zur Schule und hier, in diesem Quader, wird gewohnt. Der Bus durchquert im regelmässigen Takt das Areal, schneidet den Oerliker Park quasi in zwei Teile. Ordnung und Disziplin beherrschen die Stimmung dermassen, dass es mir beim Vorbeigehen schwerfällt, nicht an eine Zeichnung aus einem Stadtplanungsbüro zu denken. Weiter fällt auf: es gibt so gut wie keine parkierten Autos.
Im Oerliker Park steht ein Turm mit einer Wendeltreppe. Oben angekommen musste ich an de Certeau denken: Die Stadt von oben gesehen als Text.[12] Diese Zone lässt mich eher an eine Rechenaufgabe denken. Für mich, als Vorbeischweifende, ist das keine Wohlfühlzone. Doch wie de Ceteau wachsam bemerkte: „Die Panorama-Stadt ist ein theoretisches, das heisst visuelles Trugbild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustande kommt.“[13] Durch die Literaturrecherche erfahre ich später, dass Ende der 1980er Jahre mit der Konzipierung für eine Neugestaltung des damals kaum mehr genutzten Industrieareales begonnen wurde. Unter dem Namen Zentrum Zürich Nord (ZZN) ist die etwa 60 Hektaren grosse Fläche inzwischen zu Neu-Oerlikon umgestaltet worden. Die neuen Gebäude, die die historischen Industriebauten verdrängten, bieten heute Platz für 12‘000 Arbeitsplätze und Wohnungen für 5‘000 Menschen.[14] Das hat sich für die Stadt tatsächlich gerechnet. In einem Zeitungsartikel von 2018 mit der Überschrift Das überholte Image der Retortenstadt ist herauszulesen, dass nach anfänglichen Schwierigkeiten viele Menschen, die Mehrheit von ihnen jung und gutverdienend, sich in der Zwischenzeit in Neu-Oerlikon wohl fühlen.[15] Der grosszügige Raum, die moderne Architektur und die Mitgestaltungsmöglichkeiten werden geschätzt. „Die Liegenschaftsverwaltungen führen Wartelisten, und die Umfragen zeigen eine wachsende Zufriedenheit der Bewohner und Gewerbetreibenden.“[16]
Abschliessende Gedanken
Die Mitglieder der Situationistischen Internationalen haben wiederholt die Forderung nach Mitgestaltung des urbanen Raumes zum Ausdruck gebracht. Auf den ersten flüchtigen Blick gibt es in allen drei beschriebenen Zonen wenig Raum für freie Gestaltung. Liest man die Jahresübersicht des Quartiervereins Oerlikon und einzelne Zeitungsartikel, relativiert sich diese Sicht. Menschen sind den offiziellen Stadtplanern nicht einfach machtlos ausgeliefert. Strategien, wie die Organisation von Floh- und Weihnachts-Märkten sowie Filmabende auf öffentlichen Plätzen gestalten den Raum beispielsweise mit.[17] Die Gesellschaft entscheidet am Ende, bewusst oder unbewusst, ob ein Raum angeeignet wird und wie. Der in vielen Medien wiederholt thematisierte Wohnungsnotstand ist bestimmt nicht der einzige Grund für die Menschen, Neu-Oerlikon als Wohnort in Betracht zu ziehen.
Durch das Herumschweifen habe ich den urbanen Raum in Oerlikon näher kennengerlernt. Doch diese Technik hat Schwächen. Die Wirkung eines Raumes ist sehr subjektiv. Für jemanden, der in Oerlikon beispielsweise aufgewachsen ist, vielleicht sogar in der MFO gearbeitet hat und die Veränderungen seit Jahrzehnten miterlebt, bedeuten bestimmte Räume emotional und ideell etwas anderes, als für neu Zugezogene oder Vorbeigehende. Physische und virtuelle Räume lassen sich nicht trennen. Kombiniert mit einer Literaturrecherche, ist die Technik des Herumschweifens eine fruchtbare Herangehensweise um urbanen Raum näher zu begreifen. Eine breite Kontaktaufnahme mit den Stadtbewohnerinnen würde noch umfassendere Erkenntnisse ermöglichen.
[1] Vgl. Statistik Stadt Zürich 2015: Quartierspiegel Oerlikon 2015. URL: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/publikationen-angebote/publikationen/Quartierspiegel/QUARTIER_115.html Creative Commons Lizenz: S. 4. CC-BY.SA-3.0 unportiert, CC-BY-SA 4.0 international [Stand: 22.4.2018].
[2] Muri, Gabriela/Friedrich Sabine: Stadt(t)räume – Alltagsräume? Jugendkulturen zwischen geplanter und gelebter Urbanität, Wiesbaden 2009, S. 108.
[3] Debord, Guy: Theorie des Umherschweifens, in: Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S.64–67.
[4] Ebd., S. 64–67.
[5] De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 188.
[6] Vgl. Orlich Max Jakob: Situationistische Internationale. Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957-1972), Bielefeld 2011, S. 123.
[7] De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 205.
[8] Vgl. Statistik Stadt Zürich 2015: Quartierspiegel Oerlikon 2015. URL: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/publikationen-angebote/publikationen/Quartierspiegel/QUARTIER_115.html Creative Commons Lizenz: S. 6–8. CC-BY.SA-3.0 unportiert, CC-BY-SA 4.0 international [Stand: 22.4.2018].
[9] Nieuwenhuys, Constant: Eine andere Stadt für ein anderes Leben, in: Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S. 80.
[10] Vgl. Maeschli Corinne/Niederer, Marcel/Hofer, Andreas: Der Fall: Zentrum Zürich Nord (ZZN), in: Fallstudie ’96. Zentrum Zürich Nord – Stadt im Aufbruch. Bausteine für eine nachhaltige Stadtentwicklung, Zürich 1997, S. 86.
[11] Nieuwenhuys, Constant: Eine andere Stadt für ein anderes Leben, in: Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S. 80.
[12] Vgl. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179–182.
[13] Zit. ebd., S. 181.
[14] Vgl. Statistik Stadt Zürich 2015: Quartierspiegel Oerlikon 2015. URL: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/publikationen-angebote/publikationen/Quartierspiegel/QUARTIER_115.html Creative Commons Lizenz: S. 5. CC-BY.SA-3.0 unportiert, CC-BY-SA 4.0 international [Stand: 22.4.2018].
[15] Vgl. Troxler 2010: Irène Troxler, Das überholte Image der Retortenstadt, Neue Zürcher Zeitung 2010. URL: https://www.nzz.ch/das_ueberholte_image_der_retortenstadt-1.5750451 [Stand: 22.4.2018].
[16] Zit. ebd.
[17] Vgl. Relly Christian: Quartierverein Oerlikon – Jahresbericht 2016 URL: http://www.qv-oerlikon.ch/CONTAO-344/index.php/verein/ueber-den-verein.html [Stand: 22.4.2018].