Ein Vergleich zweier räumlicher Wahrnehmungsarten
Von Antonia Selva
„Man sieht, was man sehen lernte.” – Lucius Burckhardt [1]
Raum ist nicht gleich Raum. Er begegnet uns in zahlreichen Facetten und Ausprägungen, meist bemerken wir ihn gar nicht, oder erst, wenn seine Grenzen überschritten werden oder zwei verschiedene Raumverständnisse aufeinanderprallen. Dies hängt damit zusammen, dass wir – abhängig von der eigenen Beziehung zu ihm – Raum ganz verschieden wahrnehmen.
Meine Auseinandersetzung mit dem Thema Raum begann mit dem Prinzip der „sitespecific art“ , mit der ortsbezogenen Kunst, mit welcher ich mich durch Trisha Browns Werk Roof Piece das erste Mal bewusst auseinandersetzte. Diese in ihr Umfeld eingebettete Kunst verlangt von der sie betrachtenden Person eine völlig neue Art der Wahrnehmung. Das führte zu verschiedenen Fragen, die sich mir plötzlich stellten. Was ist überhaupt „Wahrnehmung“? Was ist ein „Blick“? Und was bedeutet Wahrnehmung im Zusammenhang mit der menschlichen Umwelt? Welche Verbindung besteht zwischen der Art, wie man seine Umwelt sieht und dem Raum, den man dadurch konstruiert? Und wie spielen da Elemente des Vertrauten sowie des Fremden hinein?
Ausgangspunkt für meine Betrachtung von Wahrnehmung, Blick und Raum soll die Wahrnehmungsauffassung des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt sein. Nach Burckhardts Theorie liegt die Charakteristik der Umwelt, der Landschaft oder auch des öffentlichen Raums, in welchem sich der Mensch bewegt, nicht in der Natur der Dinge selbst, sondern in den Köpfen der Menschen. Die ortsspezifischen Merkmale, mit denen man einen Raum als einen bestimmten Raum identifiziert, sind Konstrukte, welche erst durch die sie wahrnehmende Gesellschaft konstituiert werden. Rückwirkend nimmt der Mensch wieder Einfluss auf den Raum, wenn er beginnt, sein gewonnenes Bild aus Symbolen und Zeichen im Raum als Planung zu verwirklichen. [2]
Burckhardt zeigt mit seiner Arbeit, wie die Wahrnehmung solcher öffentlichen Räume historischen und kulturellen Bedingungen unterworfen ist und unterstreicht dabei die Determiniertheit menschlicher Wahrnehmungsformen. Seine Idee der Wahrnehmung als ortsspezifische, zustandsspezifische und personenabhängige Sinneserfahrung will ich mir nun für die Betrachtung zweier verschiedener Arten von Wahrnehmungstypen nutzbar machen: Die touristische Wahrnehmung, welche sich auf der ständigen Suche nach dem Schönen befindet und die funktionell-pragmatisch ausgerichtete alltägliche Wahrnehmung. Die theoretischen Überlegungen werden dabei unterstützt von Videomaterial, welches ich in Strassburg (Frankreich), wo ich die Perspektive einer Touristin und Zürich (Schweiz), wo ich die Perspektive einer Einwohnerin eingenommen und aufgenommen habe. Mit dieser filmischen Herangehensweise versuchte ich, die Besonderheit der jeweiligen Wahrnehmung einzufangen.
Touristische Wahrnehmung
Wie schaut der Mensch auf das Fremde? Was nimmt er wahr und was lässt er weg?
Für mich ist das erste Merkmal touristischer Wahrnehmung eine innere wie äussere Distanz. Mit der inneren Distanz ist eine lebensweltliche Distanz gemeint, welche eine Person, die an einem Ort nur zu Besuch ist, besitzt. Der Bezug zum Raum ist distanziert, weil beinahe nichts die Person und den Ort verbindet. Im Gegensatz zu den Ansässigen ist sie den Häusern und den Strassen fremd. Das Element, welches dennoch Verbindung schafft, ist die Wahrnehmung und das Vergleichsrepertoire von Wahrgenommenem der Person selbst, welches durch ihre persönliche Entwicklung, Erziehung und Sozialisation an einem anderen Ort geformt wurde. Der Vergleich wird zum Mittel der Übersetzung eines Bedeutungszusammenhangs im und von ‚dem Fremden’.
Während meines Aufenthalts als Touristin in Strassburg fiel mir das viele Wasser auf, welchem man überall begegnet. Verglichen mit der Limmat in Zürich schienen mit die Flussufer des Ill viel mehr genutzt zu sein, sei dies für Touristen wie für die Einheimischen. Weiterhin fielen mir die vielen engen Gässchen auf, das Kopfsteinpflaster und nicht zuletzt die imposante Kathedrale im Zentrum der Altstadt. Man konnte eine Aussichtsplattform besteigen, von wo man eine sehr schöne Aussicht über die umliegenden Dächer der Altstadt und das Treiben in den Strassen erhielt. Lustig, aber befremdlich empfand ich den elektrischen Mini-Zug, welcher Touristen durch die Altstadt chauffierte. Er war für mich ein Zeichen von Kommerzialisierung durch den Tourismus.
Es gibt aber noch eine andere Art der Distanz, welche sich im Blick des Touristen/der Touristin zeigt: Die rein räumliche. Touristen wenden ihre Blicke vermehrt auf die oberen zwei Drittel des städtischen Raumes, beim Bestaunen der Architektur oder dem Lesen der Strassenschilder. Auch geht ihr Blick in die Ferne, an den Horizont um eine möglichst malerische Aussicht zu entdecken oder um nichts zu übersehen.
Auch ich strebte in Strassburg immer wieder hochgelegene Orte an, um einen Rundumblick auf die Gegend zu erhalten. Tat sich nach einem längeren Marsch durch das Strassenlabyrinth der Altstadt wiedermal ein kleiner gepflasterter Platz auf, hob sich mein Blick automatisch weg vom Boden, weil ich die sich präsentierenden Häuserfassaden studieren wollte. Dass die Hausfassaden sich aber nicht wirklich von denen in den Gassen unterschieden, machte keinen Unterschied.
Der sich nach oben richtende Blick des typischen Touristen zeichnet sich weiter aus durch eine Suche nach dem Schönen. Damit sind natürlich nicht nur die Blumen im Stadtgarten und der geflieste Boden in der Bahnhofshalle gemeint, sondern auch die rauchenden Schornsteine der des Industrieviertels und der Lärm in den Einkaufsstrassen. Als ‚schön’ gelten nämlich nicht nur Dinge, welche in einem ästhetischen Sinne schön sind, sondern auch Dinge welche bestimmte Vorstellungen und Bildern des Touristen bestätigen. [3]
So empfand ich z.B. die engen, zum Teil auch sehr dunklen Gassen und die schiefen Häuschen in Strassburg als sehr malerisch.
Die Suche des Touristen ist also nicht zwingendermassen eine Betrachtung des Raumes ohne Interesse, oder ohne die Absicht daraus Profit schlagen zu wollen. [4] Das Fremdsein macht zwar vielleicht eine reine ästhetische Betrachtung des Raums erst möglich, bedeutet aber gleichermassen, dass der Betrachter über einen sehr kollektiven und unpersönlichen Blick verfügt, welcher durch den bereits erwähnten kollektiven Prozess des Abgleichs von Vorstellungen mit den Wahrnehmungen in der Stadt hervorgeht.
Durch das meist eher kurze Verweilen in einer Stadt werden Motive, Symbole und Objekte nur kurz betrachtet. Weil man in der Regel möglichst viel erleben und betrachten will, bleibt nicht an jeder Strassenecke Zeit, die Backsteinmauer oder die Blumentöpfe vor den Fensterfronten zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit den Elementen des Raums bleibt dadurch meist oberflächlich und auf den Vergleich mit den eigenen Vorstellungen reduziert. Mit dem Festhalten in Bildern, also der Konservierung der ortsspezifischen Merkmale soll dem entgegengewirkt werden: Ist der Moment eingefroren kann er eingepackt und Zuhause wieder angeschaut werden, eine Wahrnehmung to-go sozusagen, deren Oberflächlichkeit man auf dem eigenen Sofa Tiefe verleihen kann (ob man dies dann auch wirklich tut, ist eine andere Frage). Auf diese Weise bestätigt sich die These von des britischen Soziologen John Urry: der touristische Blick konsumiert, was er sieht. [5]
Alltägliche Wahrnehmung
Was ist ‚Alltag’? Um soziologisch zu sprechen, ist der Alltag als eine Wirklichkeit zu verstehen, die jedem vorgegeben und fraglos und selbstverständlich hingenommen wird. [6] Im Gegensatz zur touristischen Wahrnehmung ist eine kurze Distanz für den alltäglichen Blick bezeichnend. Konkret für den menschlichen Blick bedeutet dies, dass man im Alltag häufig auf Dinge schaut, die sich unmittelbar und direkt in der eigenen Nähe befinden. Dies zeugt von einem pragmatisch-funktionalistischen und gleichzeitig einem wahrnehmungs-determinierenden Grundsatz: Im Alltag beschäftigt man sich mit Dingen, aus denen man einen direkten Nutzen ziehen kann.
Während ich vor mich hingehe, schaue ich zum Beispiel auf meine Füsse, vielleicht unterbrochen von Momenten, in welchen auf mein Mobiltelefon blicke. Am Strassenrand wartend bis ich die Strasse überqueren kann, hebt sich mein Blick und ich nehme das erste Mal ein Bild wahr, das ich für ein Ästhetisches halte: Die Sonne scheint von der anderen Seite durch eine Gebäudeunterführung und die Passanten, die hindurchgehen, kreieren im Gegenlicht ein interessantes Schattenbild.
Die Wahrnehmung reduziert sich auf eine kleine, dafür umso intensivere Blase um die wahrnehmende Person, mit deren Grenze Nützliches von Unnützem getrennt wird. Diese Fokussierung bedeutet somit eine gleichzeitige Selektion und ist nicht zuletzt für den Energiehaushalt einer Person von ungemeiner Wichtigkeit. Konkret bedeutet dies für den Blick, dass er sucht und nicht – wie der touristische Blick – antrifft.
Während meinen unzähligen Bus- und Zugfahrten blicke ich wohl meist aus dem Fenster oder auf den Sitzplatz mir gegenüber. Oftmals bin ich dabei so in Gedanken versunken, dass ich nur schwer wirklich von einem Blick nach aussen sprechen kann, vielmehr richtet sich in diesen Momenten mein Blick nach innen. Ist es Zeit auszusteigen, kann ich meist nicht mehr sagen, was ich die ganze Fahrt über angeschaut habe.
Diese trennende, funktionale Blase kann nur aufgrund einer geringen lebensweltlichen Distanz existieren. Damit ist die Zugehörigkeit des Menschen zum urbanen Raum gemeint. Als Zahnrad in der Maschinerie der Stadt ist er Teil eines Systems, dessen Regeln er als funktionierendes Individuum bereits intuitiv beherrscht und in seinem Handeln selbst produziert. Während der Tourist den urbanen Raum erst wahrnimmt, vergleicht und dadurch versteht, nimmt der Mensch im Alltag seinen ihn umgebenden Raum nur wahr; er muss ihn weder vergleichen noch verstehen, weil für ihn durch seine Eingebundenheit, durch seine geringe lebensweltliche Distanz zum Ort alles bereits verstanden ist.
Ich sass auf der Treppe vor einem Haus und wartete auf das Tram, während viele Menschen mein Sichtfeld passierten. Wieder mit diesem nach innen gerichteten Blick beschäftigte ich mich kaum wirklich mit ihnen. Ich wusste durch die unmittelbare Nähe zur Universität, dass diese Menschenbeine mit grosser Wahrscheinlichkeit Studentenbeine auf dem Weg nach Hause sind, die einen schneller, die anderen langsamer. Mit dieser Einordnung erledigte sich jede weitere Auseinandersetzung mit ihnen und ich träumte wieder vor mich hin.
Während der touristische Blick auf das „Schöne“ fokussiert, beschränkt sich der alltägliche Blick auf das „Nützliche“. In diesem Sinne ist sein Blick gesteuert und ungesteuert zugleich: Gesteuert innerhalb dieser Nutzblase, ungesteuert wenn der Blick über diese Blasengrenze hinausgeht.
An dieser Stelle will ich anfügen, wie schwer es mir gefallen ist, den alltäglichen Blick schriftlich sowie mit der Kamera festzuhalten. Meine Schwierigkeiten erkläre ich damit, dass mir, sobald ich eine Kamera in den Händen hielt und sie gezielt auf Dinge richten musste, der alltägliche Zugang zu ihnen entglitt. Mit der Kamera spielte die Ästhetik im Bild und Raum plötzlich wieder eine Rolle und ich rutschte – ohne zu wollen – wieder in eine touristische Wahrnehmung hinein. Ich erfuhr am eigenen Leib, wie extrem unbewusst und intuitiv die alltägliche Wahrnehmung ist.
Aus Blick wird Raum
Der touristische sowie der alltägliche Blick kreieren einen entsprechenden Raum, wo geboten wird, was die Touristen oder Einheimische sehen, erleben und konsumieren wollen. Der alltägliche Blick produziert einen funktionalen, pragmatischen und systematischen Raum, der das anbietet, was für den Menschen als Stadtbewohner nützlich ist; was er für seine Lebensvollzüge braucht. Er kreiert wortwörtlich Lebensraum, wo sich Ästhetik der Pragmatik und Funktion unterordnet. Die Konstruktion des alltäglichen Raumes ist, trotz jeder Beiläufigkeit seines Entstehens, für eine Stadt eine bestandserhaltende Notwendigkeit. Warum wird daneben noch den touristischen Bedürfnissen Folge geleistet? Warum gibt es die Blumenrabatten mit der grossen Uhr am Bürkliplatz, die etwas lächerliche Elektrolok in der Strassburger Altstadt oder die spektakuläre Beleuchtung des Eiffelturms in Paris? Aus wirtschaftlichen Gründen vielleicht? Dieser touristische Raum geht für eine Stadt mit Aufwertungs- und Gentrifizierungsprozessen einher, aber auch mit Vereinheitlichung. Als Endprodukt erhalten wir die absichtliche, artifizielle Konstruktion von hyperrealem Raum. Der touristische Raum kann in diesem Fall den alltäglichen Raum überlagern oder sogar verdrängen.
In diesem Zusammenhang wird oft von der ‚Disneyfizierung der Städte’[7] gesprochen. Weil der touristische Blick ein flüchtiger und ständig auf der Suche nach dem ‚Schönen’ ist und keine Nähe zum Ort und dem alltäglichen Raum aufbauen will/kann, kann es dazu führen, dass der urbane Raum verkommt, weil er sich den Bedürfnissen des Tourismus anpasst und zu einer spektakulären aber substanzlosen Aufbauschung von Attraktionen wird. Venedig kann als führendes Beispiel aufgeführt werden, welches von Prozessen der Degenerierung des urbanen Raumes betroffen ist. [8] Der berühmte französische Raumsoziologe Henri Lefebvre äusserte sich diesem Thema, indem er meint, dass die historische Stadt nur noch Gegenstand kulturellen Konsums für Tourismus und Ästhetizismus ist, wodurch der urbane Raum sich nicht mehr erfassen lässt. [9]
Dem gegenüber werden auch Stimmen laut, die sich gegen eine Verteufelung des Tourismus aussprechen. Statt von einer zusammenhängenden Entität auszugehen, müsse man Raum als einen Ort begreifen, wo ein kontinuierlicher Dialog zwischen Einheimischen, Touristen und Einwanderern stattfindet, der für eine moderne Stadtentwicklung von ungemeiner Wichtigkeit ist. [10]
Abschliessende Gedanken
Wahrnehmung verstehe ich jetzt als einen Vorgang der Informationsaufnahme, deren Selektion von zahlreichen personenabhängigen Faktoren entschieden wird. Durch das Wahrnehmen und Nicht-Wahrnehmen von bestimmten Objekten entsteht ein unterschiedlicher Zugang zur Umwelt, welcher wiederum das raumgenerierende Handeln des Menschen beeinflusst. Von welcher Seite man es auch betrachtet: Die Ressource ‚Raum’ gewinnt mit der modernen Stadtentwicklung und dem wachsenden Tourismus zunehmend an Wichtigkeit. Viele Bevölkerungsgruppen scheinen – ob bewusst oder unbewusst – in der Weise wie sie in die Welt schauen, Anspruch auf dessen Gestaltung zu erheben. Interessant ist es darum, sich mit der eigenen Wahrnehmung auseinanderzusetzen und sich zu fragen, wodurch sie determiniert wird und was sie zu einer spezifischen Raumkonstruktion beiträgt. Mich hatte diese Auseinandersetzung sehr angeregt. Ich sehe viele Dinge wieder anders und habe mir vorgenommen, in Zukunft mehr darauf zu achten, mit welchem Blick ich durch die Welt gehe, wie sich mein Blick vielleicht durch meine Umgebung ändert und welche Räume sich dadurch für mich auftun.
[1] Burckhardt, Lucius: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Kassel 2007, S. 301.
[2] Ebd., S.19/33.
[3] Vgl. Burckhardt 2007 (wie Anm. 1), S.36-38.
[4] Ebd., S. 253.
[5] Vgl. Urry 2002 (wie Anm. 4), S.38-39.
[6] Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. 2. Aufl., Konstanz 2017, S.30.
[7] Frank Roost: Die Disneyfizierung der Städte. Grossprojekte der Entertainmentindustrie am Beispiel des New Yorkers Square und der Siedlung Celebration in Florida, Wiesbaden 2000, S.11.
[8] Adrian Lobe: Disneyfizierung der Städte. In: wienerzeitung.at, 2016, URL: https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/vermessungen/831945_Disneyfizierung-der-Staedte.html (Abgerufen am 23.4.18.)
[9] Henri Lefebvre: Recht auf Stadt, Hamburg 2016, S.85.
[10]Vgl. Lobe 2016 (wie Anm. 8)
Abbildungsverzeichnis
Abb.1 (Beitragsbild): Obere Waidstrasse, 8037 Zürich, 12. Mai 2018, Foto: Die Verfasserin.