Exkursion vom 16.04.2016
Die zweite Exkursion der Tour de Suisse führte uns nach St. Gallen. Nach einer viertelstündigen Busfahrt und zehn Minuten zu Fuss erreichten wir das Industrieareal, auf dem das Sitterwerk angesiedelt ist. Ursprünglich, das heisst bis 1988, als Textilfärberei genutzt, sind hier mittlerweile 30 verschiedene Unternehmen und 500 Personen tätig.
Das Sitterwerk, eine 2006 gegründete, gemeinnützige Stiftung, beinhaltet eine öffentliche Bibliothek, ein Materialarchiv sowie das Kesselhaus Josephsohn, das unter anderem als museale Ausstellungshalle genutzt wird. Des Weiteren gibt es ein Atelierhaus, ein Fotolabor, das 2009 im Umfeld der Kunstgiesserei und des Sitterwerks gegründet wurde, sowie Gästezimmer für Besucher, die beispielsweise mehrtägige Recherchen anstellen wollen und dafür eine Übernachtungsmöglichkeit benötigen. Ebenfalls Teil des Sitterwerks ist die Kunstgiesserei.
Ein zentraler Bestandteil der Stiftung ist die Kunstbibliothek. Diese beinhaltet 25’000 Bücher, von denen 11’000 direkt verfügbar sind, der Rest befindet sich in einem Magazin. Der Bestand der Bibliothek stammt grösstenteils von Daniel Rohner, einem leidenschaftlichen Büchersammler, der früh verstarb und seine Kollektion dem Sitterwerk vermachte. Hinzugekommen sind auch Bücher aus der Sammlung von Felix Lehner, dem Initianten des Sitterwerks. Ausserdem wird der Bibliotheksbestand laufend durch weitere Werke ergänzt. Die Bibliothek ist mit einem faszinierenden (und wohl einzigartigen) Inventarisierungssystem ausgestattet, das mit Radiofrequenz funktioniert: Jedes Buch ist mit einem RFID-Chip versehen. Nachts fahren zwei Scanner die Regale ab und erfassen in mehrstündiger „Arbeit“ die Standorte der verschiedenen Bücher. Am Computer kann danach jede Monografie, jeder Ausstellungskatalog, jeder Kunstband etc. lokalisiert werden, eine feste Ordnung mit Signaturen wie in einer klassischen Bibliothek existiert folglich nicht.
Ein zweite „Bibliothek“ bietet das Materialarchiv: ein regelrechtes Lexikon der Kunstproduktion. In etlichen Schubladen ist hier eine reiche Vielfalt von Proben und Mustern diverser Materialien für die Kunstproduktion abgelegt, insgesamt sind es 3’000. Künstlerinnen und Künstler können sich zum Beispiel inspirieren lassen und geeignete Materialien für die Produktion eines Werks finden. Über www.materialarchiv.ch ist diese Sammlung auch digital zugänglich.
Ein weiterer wichtiger Teil des Sitterwerks ist das Kesselhaus Josephsohn, das in seiner heutigen Form seit 2002 existiert. Eine Auswahl von Gipsmodellen und Bronzen des lange in Zürich ansässigen Plastikers Hans Josephsohn ist hier ausgestellt. Der Künstler stammte aus einer jüdischen Familie und absolvierte unter anderem eine Lehre beim Bildhauer Otto Müller in Zürich. Das Thema seines Schaffens war immer die menschliche Figur, der Ausgangspunkt für eine Skulptur stets eine persönliche Begegnung, wie ein kurzer Rundgang durch die Ausstellung im Kesselhaus eindrücklich zu zeigen vermag. Josephsohn arbeitete mit Gips, vor allem, weil er diesen, im Gegensatz zu zum Beispiel Marmor, flexibler verändern und anpassen konnte[1]. Seine Figuren und Modelle wurden aber auch gegossen.
Die Frage stellt sich, wieso das Kesselhaus Josephsohn hier im Sittertobel angesiedelt ist. Felix Lehner sah im Alter von 17 Jahren einen Film von Jürg Hasler über Josephsohn (Josephsohn – Stein des Anstosses) und war derart fasziniert vom Schaffen des Künstlers, dass er ihn unbedingt kennenlernen wollte. Später goss Lehner auch Josephsons Werke und über die Jahre entwickelte sich eine Freundschaft. Lehners Wunsch war es, die Skulpturen auch auszustellen. Als die grosse Halle neben der Kunstgiesserei, in der die Dampfkessel der Textilfärberei standen, frei wurde, stellte Lehner – nach anfänglicher Skepsis – Skulpturen hinein und sah, dass diese im hohen Raum eine grosse Kraft entwickelten. Auch Josephsohn war überzeugt und sofort bereit, mitzumachen. So entstand im Kesselhaus ein Ausstellungsraum, eine Schaulager und eine Galerie für Josephsohns künstlerisches Schaffen. Finanziert wird das Kesselhaus Josephsohn in erster Linie durch den Verkauf von Abgüssen. Pro Figur und Modell werden maximal sechs Abgüsse produziert, zusätzlich werden je zwei weitere Kopien (sog. Artist’s Proof) für den Künstler bzw. die Angehörige des Künstlers hergestellt.
Der eigentliche Ursprung der künstlerischen Tätigkeiten im Sittertal ist die bekannte Kunstgiesserei. Sie ist ebenfalls Teil der Stiftung Sitterwerk, jedoch als eigene Aktiengesellschaft organisiert. Künstlerinnen und Künstler können hier, unterstützt und beraten durch ein kompetentes Team, ihre Ideen plastisch verwirklichen. Der Guss eines Objekts erfolgt in der Regel so, dass zunächst ein Negativdruck aus Silikon, welches wiederverwertbar ist, hergestellt wird. Durch das Einpinseln oder Ausschwenken mit Wachs entsteht ein Wachspositiv, das für den Guss mit Schamotte umgeben wird. Anschliessend muss das Wachs ausgeschmolzen werden, damit eine Hohlform entsteht, in die das Metall oder die Kupferlegierung eingegossen werden kann.
Die Kunstgiesserei betreibt seit einiger Zeit auch einen Zweitstandort in Shanghai, China. Hier wurde zum Beispiel eine übergrosse Chromstahl-Figur von Alex Hanimann, die eine Schülerin darstellt, produziert. Zunächst wurde dafür ein Styropor-Modell entwickelt und danach in aufwändiger Arbeit die Chromstahl-Teile in die richtige Form geklopft. Shanghai wurde unter anderem deshalb gewählt, weil hier die Treibtechnik praktiziert wird.
Zu betonen ist, dass die Kunstgiesserei heute eine Institution mit hohem, internationalem Renommee darstellt. Neben dem klassischen Kunstguss widmet sie sich in letzter Zeit auch vermehrt dem digitalen Modellbau und dem 3D-Druck.
Autor: Simon Gugger
[1] Sog. additives Bildverfahren: Im Gegensatz zur Bildhauerei muss die eigentliche Skulptur nicht aus einem Steinblock extrahiert werden.
Sitterwerk: http://www.sitterwerk.ch/sitterwerk.html