Exkursion vom 16.04.2016
Die spätbarocke Ausstattung im Ausstellungssaal der Stiftsbibliothek St. Gallen ist von beeindruckender Schönheit. Der Saal wurde zwischen 1758 und 1767 unter Fürstab Cölestin Gugger von Staudach erbaut und ausgestattet. Im reich ornamentierten Barocksaal werden wechselnde Ausstellungen von Handschriften aus der eigenen Sammlung präsentiert.
Im Barocksaal wird zurzeit eine Ausstellung mit dem Titel: „Abracadabra – Medizin im Mittelalter“ gezeigt. Exponate sind Bücher und Handschriften, die Einblick in die medizinischen Praktiken und Vorstellungen des Mittelalters geben. Das medizinische Wissen bewegte sich zwischen Aberglaube und Naturheilkunde. Die Wirksamkeit medizinischer Verfahren war im Mittelalter allerdings beschränkt. Die Hilflosigkeit der Kranken machte sie daher für magische Therapien und angebliche Wunderheilungen empfänglich. Beispielsweise sollte das Wort Abracadabra im 9. Jahrhundert die Malaria, die einst auch nördlich der Alpen eine Bedrohung darstellte, bekämpfen. Das Wort Abracadabra stammt ursprünglich aus dem Aramäischen und bedeutet: „Es vergeht wie das Wort“. Ein Amulett, das um den Hals zu tragen war, sollte die Malariakranken heilen. Folgende elf Zeilen, die sich im Schriftbild ergeben, zierten das Amulett:
Abracadabra
Abracadabr
Abracadab
Abracada
Abracad
Abraca
Abrac
Abra
Abr
Ab
A
Eine andere Heilungsmethode für Malaria stellte Löwenfett dar, das in unseren Breitengraden wohl eher schwer aufzutreiben war.
Die Ausstellung scheint etwas aus der Zeit gefallen, nämlich auf diejenige des Barocksaals abgestimmt. Die Exponate werden in Vitrinen ausgestellt und benötigen ein längeres Betrachten, damit das Spektakuläre der Handschriften erkannt werden kann. Die ausgestellten Schriften sind hinter der Glasscheibe nur schwach beleuchtet und der Saal ist abgedunkelt, um die Zeugnisse vor Licht zu schützen.
Der vergleichsweise tadellos komplette Bestand in jedem Fachgebiet macht die Bibliothek einzigartig und zu einer der bedeutendsten historischen Bibliotheken. So ist sie eine der wenigen Klosterbibliotheken des Frühmittelalters, deren Überlieferung seit dem 8. Jahrhundert bis heute einigermassen intakt geblieben ist. Zwar ergeben die Bücher in St. Gallen aneinandergereiht insgesamt nur eine Länge von drei Kilometern, was im Vergleich zum Vatikan, wo sie 100 Kilometer erreichen, eher wenig ist, doch ist der Gesamtbestand in St. Gallen autochthon, alt und wertvoll. Trotz des lückenlosen Bestands der St. Galler Stiftsbibliothek sind nur 60% der Bücher und Handschriften tatsächlich in St. Galler Händen – in Zürich sind beispielsweise immer noch 15% der gestohlenen Schätze.
Ein Besuch der St. Galler Stiftsbibliothek ist lohnenswert. Die Vitrinen der Sonderausstellung stehen in dem fulminanten, spätbarocken Ausstellungssaal, dessen Anblick abgesehen von der Ausstellung schon sehr atemberaubend ist. Der Saal im Stil des Rokoko ist als Wandpfeilerhalle mit fünf Jochen angelegt. Schwingende Holzgalerien unterteilen den Raum in zwei Geschosse. Die Decke ist festlich verziert und mit zahlreichen, kostbaren Stuckaturen und Gewölbebildern geschmückt. Die Seitenwände wirken mit ihren sich wellenförmig abwechselnden Bücherschränke und Fensternischen reich bewegt. Vier grosse Sterne und rankenartige Schlingen zieren den hölzernen Fussboden. Dieser gilt als besonders schützenswert, weshalb er auch nur mit obligatorisch anzuziehenden Filzpantoffeln betreten werden darf. Die Ausstellungsbesucher schlurfen mit ihren Pantoffeln auf dem rutschigen, knarrenden Fussboden von Vitrine zu Vitrine und betrachten den Saal, ohne durch eine Linse zu schauen und Fotos zu knipsen – denn das Fotografieren ist im Barocksaal untersagt. Der prunkvolle Barocksaal der St. Galler Stiftsbibliothek gilt als einer der schönsten seiner Art. Nicht vergebens wurde der Stiftsbezirk St. Gallen in den Rang eines UNESCO Weltkulturerbe erhoben – dies liegt aber insbesondere an der überlieferten, exquisiten Handschriftensammlung. Der Saal ist allerdings auch virtuell auf der Internetseite als Panorama anzusehen.
Die Stiftsbibliothek scheint aber noch nicht ganz im digitalen Zeitalter angekommen. Mit einem moderneren Ausstellungskonzept könnte man den mittelalterlichen Stand der Medizin vielleicht besser vermitteln. Ob die Besucher nun wegen ihres Interesses an der Sonderausstellung in die Stiftsbibliothek kommen oder die Besichtigung des opulenten Barocksaals den Hauptteil der Besucherzahl generiert, bleibt aber offen. Anzufügen ist hingegen, dass die St. Galler Stiftsbibliothek nicht hauptsächlich ein Museum, sondern eine Fachbibliothek ist und ihre Rolle als bedeutende historische Bibliothek pflichtbewusst ausübt – dies auch digital, denn die mittelalterlichen Schriften sind heute auch in einer virtuellen Bibliothek zugänglich.
Autorin: Johanna Vieli
Stiftsbibliothek: http://www.stibi.ch