Heute werden Textilien fast nur noch mit synthetischen Farbstoffen gefärbt. Lässt sich der Übergang vom Färben mit natürlichen Farbstoffen hin zum Färben mit synthetischen Farben so einfach erklären wie “synthetische Farbstoffe sind billiger und besser”?
Nachteile vom Färberpflanzen-Handel (anhand vom Krapp-Beispiel)
- Aufwendiger Anbau und Ernte: Anbau, Pflege und Ernte von Krapp benötigen viel Zeit, Arbeitskraft (z.B. Hilfsarbeitende), Ressourcen (z.B. viel Dünger und Wasser, grosses Startkapital nötig) und Boden. Auch die Aufbereitung der Ernte ist arbeitsintensiv. Effiziente Dreifelderwirtschaft ist oft nicht möglich, weil z.B. Krappwurzeln erst nach 2–7 Jahre geerntet werden.
- Abhängig von äusseren Bedingungen (z.B. Klima): Äussere Bedingungen beeinflussen Qualität (und Quantität) vom Krapp. Z.B. der Boden kann unterschiedlich gut sein, woraus unterschiedliche Qualitäten von Krapp entspringen, die unterschiedliche Farbtöne ergeben. D.h. am Schluss ist auch der genaue Farbton abhängig von etwas eher Unkontrollierbarem wie dem Boden.
- Farbstoffe dienen keinem Grundbedürfnis, sind somit ein riskantes Handelsgut und besetzten landwirtschaftlichen Boden: Vermischung von Getreide- und Färberpflanzenanbau erwies sich nicht als praktikabel. Im Zweifelsfall hatte Getreide Vorrang. 1878 lieferten Fabriken z.B. dieselbe Menge (künstlichen) Alizarins wie 10 Jahre zuvor mit Krappwurzeln gewonnen wurde. Dadurch konnten «300–400000 Morgen Land» wieder für Getreideanbau verwendet werden. Anders als bei Grundbedürfnis-Gütern schwankte die Nachfrage für Krapp stark. Daher war eine Investition in den Krappanbau mit Risiko verbunden. Für künstliche Farbstoffe hingegen braucht man weniger Boden bzw. kann Boden effizienter nutzen (weil z.B. Steinkohlenteer zunächst ein «Abfallstoff» bei Leuchtgasherstellung war).
- Keine anpassungsfähige, flexible Marktstrukturen: Vorindustrielle Marktstrukturen (Krappbauern, kleine Kaufleute, kleine Unternehmen) waren nicht sehr anpassungsfähig und flexibel (wie z.B. moderne Unternehmen) und konnten deshalb Risiken schlechter abfedern. Für sie war es schwieriger dem wirtschaftlichen Wandel zu folgen. Daher waren sie entweder dem Untergang geweiht oder mussten sich neu organisieren (wie z.B. auf Extraktion ausweichen). (Mehr dazu)
- Innovation: Bei Preisdruck verschlechtere oft die Qualität von natürlichen Farbstoffen, weil Innovationen aufwendig waren. Krappbauern hatten meistens keine übrigen Ressourcen dafür und Kaufleute oft kein Interesse daran, da sie schnell auf andere rentablere Güter umsteigen konnten. Wenn die Qualität sank, dann sanken die Absatzchancen noch weiter. D.h. Innovationen wären wichtig für eine stabile Marktfähigkeit, in diesen Strukturen aber schwierig.
- Natur gibt die Farben vor: Mehr oder weniger gegebene Naturprodukte im Vergleich zu veränderbaren, anpassungsfähigen Teerfarben.
- Import: Zusätzlich zu den neuen Erfindungen der Farbenindustrie war der Import von natürlichen Farbstoffen aus dem “Orient” (damit sind i.d.R. geographische Orte leichter, sodass im Buch der Erfindungen um 1897 die deutsche Färberpflanzenkultur bereits zu den historischen Erinnerungen gezählt wird. (“Orient” steht hier kursiv und in Anführungsstrichen, da es in der Literatur so genannt wird. Es ist keine klare geographische Angabe, sondern eher ein Konstrukt, das sich über die Zeit gewandelt hat.)
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Vorteile vom Handel mit synthetischen Farbstoffen
- Schnelle Produktion: Synthetisches Alizarin konnte sehr schnell hergestellt werden im Vergleich zu natürlichem. Der Rohstoff muss nicht zuerst jahrelang wachsen, gepflegt und geerntet werden. Steinkohle muss zwar schon über Millionen Jahre wachsen und entstehen, ist aber heute als brauchbare Ressource vorhanden. Betreffend Nachhaltigkeit sind die beiden Ressourcen nochmals neu gegeneinander abzuwägen. Aber betreffend schnelle Produktion ist eine schon vorhandene Ressource ein Pull-Faktor.
- Veränderbare, experimentierfähige Produkte: Da synthetische Farbstoffe per Definition im Labor hergestellt werden, kann man auch einfacher an ihrer Zusammensetzung «herumdrehen» und sieht die Ergebnisse relativ schnell. Sie sind also «experimentierfähiger» als Naturprodukte. In den 1860er entstanden viele neue synthetische Farbstoffe. Einige von ihnen hatten nur ein kurzes Aufleben, da sie keine optimalen Eigenschaften besassen. Andere waren von Anfang an sehr gut brauchbar und wieder andere wurden weiter und weiter entwickelt, sodass heute synthetische Farbstoffe definitiv mit besseren Eigenschaften ausgestattet sind als natürliche.
- Breite Farbpalette, Trichromie, anpassungsfähige Produkte: Synthetische Farbstoffe kann man einfacher in einem Färberbad mischen bzw. man kann sie im Vgl. zu einigen Kombinationen von Naturfarbstoffen überhaupt zusammen mischen. Und genau diese Fähigkeit erlaubt es mit drei primären Farben (rot, blau, gelb) alle möglichen Farben zu «ermischen». Dieses Prinzip nennt sich Trichromie. Es ist dasselbe Prinzip, das beispielsweise farbige Fotografie, farbiges Fernsehen oder modernes, farbiges Drucken erlaubt. Theoretisch wäre Trichromie bei Naturfarbstoffen vielleicht auch möglich, aber definitiv schwierig. Synthetische Farbstoffe erlauben es, Nuancen herzustellen, die man nicht von der Natur erreichen bzw. reproduzieren kann. Im Vergleich zu Naturfarbstoffen sind sie also sehr flexibel und an Wünsche/Nachfrage anpassungsfähig. Für die modeorientierte Textilindustrie war das breite Farbspektrum sehr zentral.
- Reproduzierbarkeit: Synthetisch gewonnene Farbnuancen können wiederholt hergestellt werden, ohne dass sie sich gross unterscheiden. Ganz anders sieht dies bei natürlich gewonnen Farbnuancen aus. Da fällt dem Zufall immer ein grosser Teil zu, wie die nächste Färbung genau wird.
- Wasserverbrauch beim Färben: Das Verhältnis Farbstoff:Wasserverbrauch liegt bei synthetischen Farbstoffen bei 1:8. Hingegen bei Naturfarbstoffen in der Grössenordnung von 1:30. (Allerdings könnte man bei Letzteren evtl. auch ein kleineres Verhältnis erreichen. Jedoch wurde auf diesem Feld einfach noch nicht genug dazu geforscht.)
- Anpassungsfähige Marktstrukturen: Der moderne/industrielle Farbstoffmarkt war flexibler, anpassungsfähiger und konkurrenzfähiger. (Mehr dazu)
- Skaleneffekte, Effizienz: Bei künstlichen Farben sind Skaleneffekte eher erreichbar als bei Naturfarben (bzw. beim Färberpflanzenanbau, Cochenille Zucht usw.). Daher arbeiteten Farbenfabriken mit grossen Mengen. Diese grossen Mengen sollten möglichst schnell weiterverarbeitet und dann weiterverkauft werden. Wenn man in grossen Mengen schnell arbeitet, muss man möglichst viele Prozesse integrieren um nicht abhängig zu sein, so kann dann alles schnell ablaufen.
- Billiger: Um 1881 war es dreimal billiger mit künstlichem Alizarin zu färben als mit Färberkrapp.
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Wie siehts aus mit der Nachhaltigkeit? Ist das Färben mit Alizarin aus Krapp oder aus dem Labor nachhaltiger?
Nun wäre es auch spannend Argumente zu sammeln, die gegen die Ablösung sprechen. Sprich: Vorteile von natürlichen Farben und Nachteile von synthetischen Farben.
Ein solches Argument könnte Nachhaltigkeit sein. Allerdings stecken meine Recherchen dazu noch ganz am Anfang. Intuitiv würde man wohl denken, dass natürlicher Krapp nachhaltiger ist als synthetisches Alizarin. Daher wollte ich zuerst kontraintuitive Gegenargumente sammeln, bin aber noch nicht sehr weit gekommen…
Nicht nachhaltige Punkte von Färberkrapp:
- Anbau: braucht viel Boden/Anbaufläche, die man dann nicht für Grundbedürfnisse brauchen kann (wie z.B. Getreide)
- Färberei: braucht viel Wasser, viel Brennholz, Gewässerverschmutzung, nicht hygienisches Verfahren, gesundheitsgefährdend für Arbeitende. (Dasselbe Problem beim Färben mit künstlichem Alizarin?)
- Erster bekannter Umweltskandal im Vorarlberg war wegen einer Türkischrotfärberei (in Donaumonarchie, in Feldkirch)
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Nicht nachhaltige Punkte von synthetischem Alizarin:
- Farbstoffproduktion produziert Abfallprodukte, anorganische Abfälle, z.T. toxische organische Verbindungen
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Relevante Literatur:
Buch der Erfindungen. Gewerbe und Industrien, Gesamtdarstellung aller Gebiete der gewerblichen und industrielle Arbeit sowie von Weltverkehr und Weltwirtschaft (vierter Band), Leipzig 1896–1901.
Engel, Alexander: Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt/Main 2009 (Band 5).
Nieto-Galan, Agustí: Colouring Textiles. A History of Natural Dyestuffs in Industrial Europe, Dordrecht 2001.
Van Munden, G.; Fraueberger, H. (Hg.): Die Erfindungen der neuesten Zeit. Zwanzig Jahre Fortschritte im Zeitalter der Weltaustellungen, Leipzig und Berlin 1883.
Gespräch mit Agnieszka Woś Jucker aus der Abegg-Stiftung <https://abegg-stiftung.ch/who-is-who/>
Bildquellen: