Weshalb die Verdrängung?

Weshalb die Verdrängung?

Heute wer­den Tex­tilien fast nur noch mit syn­thetis­chen Farb­stof­fen gefärbt. Lässt sich der Über­gang vom Fär­ben mit natür­lichen Farb­stof­fen hin zum Fär­ben mit syn­thetis­chen Far­ben so ein­fach erk­lären wie “syn­thetis­che Farb­stoffe sind bil­liger und besser”?

Äussere Bedin­gun­gen und Repro­duzier­barkeit der Farbtöne (Auss­chnitt aus dem Gespräch mit Agniesz­ka Woś Jucker)

Nachteile vom Färberpflanzen-Handel (anhand vom Krapp-Beispiel)

  • Aufwendi­ger Anbau und Ernte: Anbau, Pflege und Ernte von Krapp benöti­gen viel Zeit, Arbeit­skraft (z.B. Hil­f­sar­bei­t­ende), Ressourcen (z.B. viel Dünger und Wass­er, gross­es Startkap­i­tal nötig) und Boden. Auch die Auf­bere­itung der Ernte ist arbeitsin­ten­siv. Effiziente Dreifelder­wirtschaft ist oft nicht möglich, weil z.B. Krap­p­wurzeln erst nach 2–7 Jahre geern­tet werden.
  • Abhängig von äusseren Bedin­gun­gen (z.B. Kli­ma): Äussere Bedin­gun­gen bee­in­flussen Qual­ität (und Quan­tität) vom Krapp. Z.B. der Boden kann unter­schiedlich gut sein, woraus unter­schiedliche Qual­itäten von Krapp entsprin­gen, die unter­schiedliche Farbtöne ergeben. D.h. am Schluss ist auch der genaue Farbton abhängig von etwas eher Unkon­trol­lier­barem wie dem Boden.
  • Farb­stoffe dienen keinem Grundbedürf­nis, sind somit ein riskantes Han­delsgut und beset­zten land­wirtschaftlichen Boden: Ver­mis­chung von Getrei­de- und Fär­berpflanzenan­bau erwies sich nicht als prak­tik­a­bel. Im Zweifels­fall hat­te Getrei­de Vor­rang. 1878 liefer­ten Fab­riken z.B. dieselbe Menge (kün­stlichen) Alizarins wie 10 Jahre zuvor mit Krap­p­wurzeln gewon­nen wurde. Dadurch kon­nten «300–400000 Mor­gen Land» wieder für Getrei­dean­bau ver­wen­det wer­den. Anders als bei Grundbedürf­nis-Gütern schwank­te die Nach­frage für Krapp stark. Daher war eine Investi­tion in den Krap­pan­bau mit Risiko ver­bun­den. Für kün­stliche Farb­stoffe hinge­gen braucht man weniger Boden bzw. kann Boden effizien­ter nutzen (weil z.B. Steinkohlen­teer zunächst ein «Abfall­stoff» bei Leucht­gash­er­stel­lung war).
  • Keine anpas­sungs­fähige, flex­i­ble Mark­t­struk­turen: Vorindus­trielle Mark­t­struk­turen (Krapp­bauern, kleine Kau­fleute, kleine Unternehmen) waren nicht sehr anpas­sungs­fähig und flex­i­bel (wie z.B. mod­erne Unternehmen) und kon­nten deshalb Risiken schlechter abfed­ern. Für sie war es schwieriger dem wirtschaftlichen Wan­del zu fol­gen. Daher waren sie entwed­er dem Unter­gang gewei­ht oder mussten sich neu organ­isieren (wie z.B. auf Extrak­tion auswe­ichen). (Mehr dazu)
  • Inno­va­tion: Bei Preis­druck ver­schlechtere oft die Qual­ität von natür­lichen Farb­stof­fen, weil Inno­va­tio­nen aufwendig waren. Krapp­bauern hat­ten meis­tens keine übri­gen Ressourcen dafür und Kau­fleute oft kein Inter­esse daran, da sie schnell auf andere rentablere Güter umsteigen kon­nten. Wenn die Qual­ität sank, dann sanken die Absatzchan­cen noch weit­er. D.h. Inno­va­tio­nen wären wichtig für eine sta­bile Mark­t­fähigkeit, in diesen Struk­turen aber schwierig.
  • Natur gibt die Far­ben vor: Mehr oder weniger gegebene Natur­pro­duk­te im Ver­gle­ich zu verän­der­baren, anpas­sungs­fähi­gen Teerfarben.
  • Import: Zusät­zlich zu den neuen Erfind­un­gen der Far­benin­dus­trie war der Import von natür­lichen Farb­stof­fen aus dem “Ori­ent” (damit sind i.d.R. geo­graphis­che Orte leichter, sodass im Buch der Erfind­un­gen um 1897 die deutsche Fär­berpflanzenkul­tur bere­its zu den his­torischen Erin­nerun­gen gezählt wird. (“Ori­ent” ste­ht hier kur­siv und in Anführungsstrichen, da es in der Lit­er­atur so genan­nt wird. Es ist keine klare geo­graphis­che Angabe, son­dern eher ein Kon­strukt, das sich über die Zeit gewan­delt hat.)

Vorteile vom Handel mit synthetischen Farbstoffen

  • Schnelle Pro­duk­tion: Syn­thetis­ches Alizarin kon­nte sehr schnell hergestellt wer­den im Ver­gle­ich zu natür­lichem. Der Rohstoff muss nicht zuerst jahre­lang wach­sen, gepflegt und geern­tet wer­den. Steinkohle muss zwar schon über Mil­lio­nen Jahre wach­sen und entste­hen, ist aber heute als brauch­bare Ressource vorhan­den. Betr­e­f­fend Nach­haltigkeit sind die bei­den Ressourcen nochmals neu gegeneinan­der abzuwä­gen. Aber betr­e­f­fend schnelle Pro­duk­tion ist eine schon vorhan­dene Ressource ein Pull-Faktor.
  • Verän­der­bare, exper­i­men­tier­fähige Pro­duk­te: Da syn­thetis­che Farb­stoffe per Def­i­n­i­tion im Labor hergestellt wer­den, kann man auch ein­fach­er an ihrer Zusam­menset­zung «herum­drehen» und sieht die Ergeb­nisse rel­a­tiv schnell. Sie sind also «exper­i­men­tier­fähiger» als Natur­pro­duk­te. In den 1860er ent­standen viele neue syn­thetis­che Farb­stoffe. Einige von ihnen hat­ten nur ein kurzes Aufleben, da sie keine opti­malen Eigen­schaften besassen. Andere waren von Anfang an sehr gut brauch­bar und wieder andere wur­den weit­er und weit­er entwick­elt, sodass heute syn­thetis­che Farb­stoffe defin­i­tiv mit besseren Eigen­schaften aus­ges­tat­tet sind als natürliche.
  • Bre­ite Farb­palette, Trichromie, anpas­sungs­fähige Pro­duk­te: Syn­thetis­che Farb­stoffe kann man ein­fach­er in einem Fär­ber­bad mis­chen bzw. man kann sie im Vgl. zu eini­gen Kom­bi­na­tio­nen von Natur­farb­stof­fen über­haupt zusam­men mis­chen. Und genau diese Fähigkeit erlaubt es mit drei primären Far­ben (rot, blau, gelb) alle möglichen Far­ben zu «ermis­chen». Dieses Prinzip nen­nt sich Trichromie. Es ist das­selbe Prinzip, das beispiel­sweise far­bige Fotografie, far­biges Fernse­hen oder mod­ernes, far­biges Druck­en erlaubt. The­o­retisch wäre Trichromie bei Natur­farb­stof­fen vielle­icht auch möglich, aber defin­i­tiv schwierig. Syn­thetis­che Farb­stoffe erlauben es, Nuan­cen herzustellen, die man nicht von der Natur erre­ichen bzw. repro­duzieren kann. Im Ver­gle­ich zu Natur­farb­stof­fen sind sie also sehr flex­i­bel und an Wünsche/Nachfrage anpas­sungs­fähig. Für die mod­e­ori­en­tierte Tex­tilin­dus­trie war das bre­ite Farb­spek­trum sehr zentral.
  • Repro­duzier­barkeit: Syn­thetisch gewonnene Farb­nu­an­cen kön­nen wieder­holt hergestellt wer­den, ohne dass sie sich gross unter­schei­den. Ganz anders sieht dies bei natür­lich gewon­nen Farb­nu­an­cen aus. Da fällt dem Zufall immer ein gross­er Teil zu, wie die näch­ste Fär­bung genau wird.
  • Wasserver­brauch beim Fär­ben: Das Ver­hält­nis Farbstoff:Wasserverbrauch liegt bei syn­thetis­chen Farb­stof­fen bei 1:8. Hinge­gen bei Natur­farb­stof­fen in der Grössenord­nung von 1:30. (Allerd­ings kön­nte man bei Let­zteren evtl. auch ein kleineres Ver­hält­nis erre­ichen. Jedoch wurde auf diesem Feld ein­fach noch nicht genug dazu geforscht.)
  • Anpas­sungs­fähige Mark­t­struk­turen: Der moderne/industrielle Farb­stoff­markt war flex­i­bler, anpas­sungs­fähiger und konkur­ren­zfähiger. (Mehr dazu)
  • Skalen­ef­fek­te, Effizienz: Bei kün­stlichen Far­ben sind Skalen­ef­fek­te eher erre­ich­bar als bei Natur­far­ben (bzw. beim Fär­berpflanzenan­bau, Coche­nille Zucht usw.). Daher arbeit­eten Far­ben­fab­riken mit grossen Men­gen. Diese grossen Men­gen soll­ten möglichst schnell weit­er­ver­ar­beit­et und dann weit­er­verkauft wer­den. Wenn man in grossen Men­gen schnell arbeit­et, muss man möglichst viele Prozesse inte­gri­eren um nicht abhängig zu sein, so kann dann alles schnell ablaufen.
  • Bil­liger: Um 1881 war es dreimal bil­liger mit kün­stlichem Alizarin zu fär­ben als mit Färberkrapp.

Wie siehts aus mit der Nachhaltigkeit? Ist das Färben mit Alizarin aus Krapp oder aus dem Labor nachhaltiger?

Nun wäre es auch span­nend Argu­mente zu sam­meln, die gegen die Ablö­sung sprechen. Sprich: Vorteile von natür­lichen Far­ben und Nachteile von syn­thetis­chen Farben.

Ein solch­es Argu­ment kön­nte Nach­haltigkeit sein. Allerd­ings steck­en meine Recherchen dazu noch ganz am Anfang. Intu­itiv würde man wohl denken, dass natür­lich­er Krapp nach­haltiger ist als syn­thetis­ches Alizarin. Daher wollte ich zuerst kon­train­tu­itive Gege­nar­gu­mente sam­meln, bin aber noch nicht sehr weit gekommen…

Nicht nach­haltige Punk­te von Färberkrapp:

Nicht nach­haltige Punk­te von syn­thetis­chem Alizarin:

  • Farb­stoff­pro­duk­tion pro­duziert Abfall­pro­duk­te, anor­gan­is­che Abfälle, z.T. tox­is­che organ­is­che Verbindungen

Rel­e­vante Literatur: 

Buch der Erfind­un­gen. Gewerbe und Indus­trien, Gesamt­darstel­lung aller Gebi­ete der gewerblichen und indus­trielle Arbeit sowie von Weltverkehr und Weltwirtschaft (viert­er Band), Leipzig 1896–1901.

Engel, Alexan­der: Far­ben der Glob­al­isierung. Die Entste­hung mod­ern­er Märk­te für Farb­stoffe 1500–1900, Frankfurt/Main 2009 (Band 5). 

Nieto-Galan, Agustí: Colour­ing Tex­tiles. A His­to­ry of Nat­ur­al Dyestuffs in Indus­tri­al Europe, Dor­drecht 2001.

Van Munden, G.; Fraue­berg­er, H. (Hg.): Die Erfind­un­gen der neuesten Zeit. Zwanzig Jahre Fortschritte im Zeital­ter der Weltaustel­lun­gen, Leipzig und Berlin 1883.

Gespräch mit Agniesz­ka Woś Juck­er aus der Abegg-Stiftung <https://abegg-stiftung.ch/who-is-who/>

Bildquellen:

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