Jörg Kändel (Maler), Süddeutscher Bildschnitzer, um 1520
Schrein: Nadelholz vergoldet und farbig gefasst, Skulpturen Lindenholz vergoldet und farbig gefasst, H. 150,5, B. 130, T. 22,5 cm
Rückseite: Öltempera auf Holz, H. 148, B. 125 cm
Predella (Rückseite): vermutlich Öltempera auf Holz, H. 43,5, B. 179,5 cm
Schweizerisches Nationalmuseum: Inv. LM 7211.
Unter Vermittlung von Johann Rudolf Rahn erwarb das Schweizerische Nationalmuseum 1903 von der Gemeinde Sevgein Teile eines um 1520 gefertigten Retabels.1 Das heute unter der Nummer LM 7211 geführte Konvolut entstammt der Kirche St. Thomas und umfasst den Schrein mit bemalte Rückseite, mehrere Holzfiguren, sowie die Rückwand der Predella. Holzfiguren sowie die Rückseite der Predella (Abb. 1-3). Das Gesprenge ist nur in Ansätzen vorhanden, die Flügel sind verloren. Der Schrein und die Figuren wurden 1988 restauriert, wobei man die Fassung der Figuren instandsetzte, Risse der Rückwand schloss und die Malerei retuschierte. Abgesehen von diesen Ausbesserungen wurden die Objekte nicht überarbeitet. Trotz des fragmentarischen Zustandes illustriert das Retabel sehr gut jene Altaraufsätze, die süddeutsche Handwerker um 1500 in grossen Stückzahlen fertigten. Die Form jedoch ist ungewöhnlich und wurde von wenigen Meistern verwendet.2
Die nur an Feiertagen sichtbare Innenseite des Schreins3 zeigt die figürlich inszenierte Verkündigung an Maria. Dieser steht der Verkündigungsengel gegenüber, die rechte Hand segnend erhoben. Mit der Linken fasst er eine weisse Blume, die sich zwischen ihnen aus einem, auf einem Buch stehenden, Gefäss erhebt. Auf Höhe der Köpfe an der Nutleiste befestigt, schwebt der Heilige Geist in Form einer Taube. Den Abschluss bildet die Figur des Gottvaters, der, etwas nach links versetzt, der Szene aus dem Himmel beiwohnt. Neben der Verkündigung wurde Raum für jeweils eine Begleitfigur vorgesehen. Die heutige Aufstellung zeigt rechts die heilige Emerita und links den heiligen Lucius.
Wie diese, können auch die vier weiteren Heiligenfiguren im Schrein nicht genau verortert werden. Die dargestellten Heiligen wurden vielerorts in Graubünden verehrt. Es bleibt offen, ob die im Hochrelief gearbeitet Skulpturen diesem Schrein zugeordnen sind, einem anderen Altar der Kirche entstammen oder gänzlich anderen Ursprungs sind.
Die Gewänder der Figuren und die Innenseite des Schreins sind reich vergoldet, nur die von den Figuren verdeckten Flächen sparte man aus (Abb. 4-5). Heute lassen sich optisch zwei Qualitäten unterscheiden: An den gut sichtbaren Stellen fand Blattgold Verwendung, welches frisch glänzt. Günstiges Zwischgold, um die Figuren und an den Seiten, wirkt durch die Oxidation des Silbers dunkel und stumpf.4 Die Rückwand wurde zusätzlich mit einem Granatapfelmuster graviert.5 Polierte Kreise für die der Heiligenscheine der vorangestellten Figuren durchbrechen dieses.
Der Schrein dient jedoch nicht nur als prunkvoller Rahmen, sondern strukturiert die Szene hierarchisch: Die gestufte Bühne zeigt die Verkündigung an erhöhter Position. Die Begleitfiguren stehen tiefer. Der Kleeblattbogen oben spiegelt diese Rangordnung. Seine Segmente wie auch die Stufen der Bühne sind von vergoldetem Rankenwerk unterfangen. Während dieses sich oben gleichmässig über die Breite zieht, wird mittig unter der Bühne ein Bogenfeld ausgespart. Dies deutet auf eine Predella, deren Mittelteil sich in den Schrein hineinwölbt.2 Das Retabel aus St. Martin in Filisur (Abb. 6) verdeutlicht diesen Aufbau.
Der Feiertagsdekor erstreckt sich nicht auf die stets sichtbaren Aussenflächen der Wände. Diese tragen eine einfache grüne Marmorierung (Abb. 7). Jeweils im oberen Bereich ist die Befestigung eines Scharniers sichtbar, welches die Klappflügel hielt. Der Vergleich mit dem Retabel aus Filisur legt nahe, dass Läger in der Predella die Flügel stützten (Abb. 8). Beide Seiten zeigen zudem lange vertikale Nuten, die auf seitliche Standflügel verweisen.
Der Masswerkkamm und das Gesprenge sind fast vollständig verloren. Die Ansätze am Kleeblattbogen lassen vergoldetes, florales Rankenwerk vermuten. Stecklöcher im Dach des Schreines weisen auf weitere Komponenten hin, die jedoch nicht zu rekonstruieren sind (Abb. 9).
Die Rückseite des Schreins (Abb. 10) zeigt eine Darstellung des Jüngsten Gerichts, die der Künstler links unten am Rahmen mit „kendel maller zu bibrach“ signierte. Die zeitliche Einordnung erfolgt im Vergleich mit anderen Bündner Altären des Künstlers. Angenommen wird, dass Jörg Kändel nicht nur als Maler fungierte, sondern das Retabel als Generalunternehmer verantwortete.1
Die wiedergegebene Szene basiert weitgehend auf einen Holzschnitt Hans Baldungs von 1505 (Abb. 11).6 Der auf einem Regenbogen thronende Christus, die Weltkugel zu Füssen, hält in der oberen Bildhälfte Gericht. Er trägt einen weissen Schurz und wird von einem wallenden, roten Mantel verhüllt. Die Brust ist frei und zeigt das Wundmal. Seitlich präsentieren zwei Engeln die Arma Christi: Dornenkrone, Kreuz, Geisselsäule und Geisseln. Beide stehen auf dem Regenbogen, unten ihnen türmen sich weisse Wolken. Vor diesen Formationen knien Maria und Johannes, um für die Auferstehenden zu bitten. Maria faltet die Hände im Gebet. Johannes erhebt seine im Orantengestus. Jedoch scheinen sie sich nicht an Christus zu wenden. Haltung und Blick sind auf ihr Gegenüber gerichtet. Eine Wolkenbank hinter Christus verschliesst weitgehend den Blick auf das Dahinterliegende. Nur zwischen Maria und Johannes öffnet sich ein Durchblick und zeigt die Auferstehenden.
Obschon Jörg Kändel das Vorbild weitgehend übernahm, weicht die Darstellung insbesondere in drei Aspekten ab. Der Verzicht auf Schwert und Lilie, wie auch die leicht nach links versetzte Position Christi sind durch das Format bedingt. Inhaltlich ordnet er das Chaos der Auferstehenden: Rechts der Nutleiste zerren teuflische Gestalten die Sünder in die Hölle. Links dieser gelangen die Seligen in den Himmel. Hölle wie Himmel sind hinter den Wolken verborgen und der Imagination des Betrachters überlassen. Der Künstler nutzte diese Formationen auch, um eine Bildtiefe schichtartig aufzubauen. Dieser Räumlichkeit dient auch der zuvorderst eingefügte Auferstehende, der sich auf dem Rücken liegenden mit den Armen aus der Gruft drückt. Die Figur, die zu Christus aufblickt und sein Urteil erwartet, dient auch dazu, den Betrachter in das Geschehen einzubinden.
Die Rückseite des Schreins trägt weitere Inschriften. Diese stehen nicht originär mit dem Gemälde in Verbindung, sondern wurden zwischen 1595 und 1638 hinzugefügt.1 Die Graffiti werden als Bestätigung gesehen, dass der Raum hinter dem Retabel zur Beichte genutzt wurde.
Die Gestaltung der Predella-Rückseite fügt sich in den Kontext sowohl des Jüngsten Gerichtes wie auch der Beichte. Sie zeigt das, von zwei Engeln gehaltene, Schweisstuch der Veronika. Die Vera Icon wird zum einen zu den Arma Christi gezählt, zum anderen wurden Gebete vor Darstellungen der Vera Icon mit besonderem Ablass belohnt.3 Beides trug dazu bei, dass die Mehrzahl der Bündner Altäre dieses Motiv für die Rückseite der Predella verwendete.
Literatur
Flühler-Kreis 1998: Dione Flühler-Kreis, Funktion, Form und Bildprogramm spätgotischer Flügelaltäre, in: Astrid von Beckerath, Marc Antoni Nay, Hans Rutishauser (Hg.), Spätgotische Flügelaltäre in Graubünden und im Fürstentum Lichtenstein, Chur 1998, 43-56.
Flühler-Kreis/Wyer 2007: Dione Flühler-Kreis, Peter Wyer (Hg.), Die Holzskulpturen des Mittelalters, (Katalog der Sammlung des schweizerischen Landesmuseums Zürich), Bd. 2, Zürich 2007, 68-73.
Hahn 1993: Roland Hahn, „Daß Du immer echtes Gold und gute Farben gebrauchen sollst“ Beobachtungen zur Polychromie an Ulmer Retabeln um 1500, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg.), Meisterwerke Massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, 328-343.
Halbauer 1993: Karl Halbauer, Form und Ornament der Ulmer Schnitzretabel von 1480 bis 1530, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg.), Meisterwerke Massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, 328-343.
Inventar 2015: Informationen aus dem Inventar des Schweizerischen Nationalmuseums, Objektnummer LM 7211, eingesehen am 05. März 2015.
Perret 1994: René Perret, Katalogeintrag Nr. 135, in: Peter Jetzler (Hg.), Himmel, Hölle, Fegefeuer Das Jenseits im Mittelalter (Katalog des Schweizerischen Landesmuseums Zürich), Zürich 1994, 346-347.
Von Beckerath 1998: Astrid von Beckerath, Die Werkstätten, in: Astrid von Beckerath, Marc Antoni Nay, Hans Rutishauser (Hg.), Spätgotische Flügelaltäre in Graubünden und im Fürstentum Lichtenstein, Chur 1998, 81-125.
Westhoff/Hahn/Krebs 1993: Hans Westhoff, Roland Hahn, Elisabeth Krebs, Verzierungstechniken an spätmittelalterlichen Altarretabeln, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg.), Meisterwerke Massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, 294-299.
Wüthrich/Ruoss 1996: Lucas Wüthrich, Mylène Ruoss, Katalog der Gemälde, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Zürich 1996, 66-67