Die Fragmente des Retabels aus St. Thomas lassen nur erahnen, dass das Altarbild einem ikonographischen Gesamtprogramm folgte. Dessen Gestaltung ist das Ergebnis von Vorgaben der Auftraggeber, aber auch eines arbeitsteiligen Herstellungsprozesses von Bildwerken in hohen Stückzahlen. Dass das Retabel dennoch eine Einheit bildet, ist künstlerischen Traditionen und der Arbeit eines Konzepteurs zu verdanken.
Die Retabel im Spannungsfeld von Auftraggebern und Handwerker
Das Retabel aus St. Thomas in Sevgein ist ein typisches Beispiel jener Altaraufsätze, die um 1500 als „Massenware“ entstanden und vielfach in Graubündner Kirchen exportiert wurden. Diese Werke hatten unterschiedlichen Anforderungen zu genügen. Zum einen sollten sie den Wünschen der Auftraggeber entsprechen und stimmigen Konzepten folgen. Ihre Herstellung stand einer solchen Einheitlichkeit entgegen. Diese involvierte verschiedene Werkstätten[1. Von Beckerath 1998ii, S. 82 führt Schreiner, Bildhauer und Maler an; Menghini 1998i, S. 129 nennt zusätzlich Schlosser.], die oft weit vom Auftraggeber entfernt lagen. Zudem mussten die Künstler effizient arbeiten und griffen auf Bekanntes zurück.[2. Der Vergleich des Schreins von St. Thomas / Seveign mit jenem St. Martin / Filisur (heute im Schweizerischen Nationalmuseum, LM 14544, Abb. 07) verdeutlicht dies. Obschon unterschiedlich gross, verfügen beide Schreine über eine ähnliche Grundform. Ihre Seitenwände sind gleichartig marmoriert und zeigen analoge Nuten für die Standflügel. Die Rückwand wurde jeweils aus zwei Brettern gefertigt, die mit einer Nutleiste verbunden sind. Die Granatapfelmuster der Rückwand gleichen sich so sehr, dass von einer Schablone auszugehen ist.]
In diesem Essay möchte ich am Beispiel des Retabels aus St. Thomas aufzeigen, wie dennoch Objekte entstanden, die einem Gesamtkonzept folgten. Hierzu wird einleitend der Erstellungsprozess generell dargestellt, anschliessend das Retabel rekonstruiert (Abb. 1, 2, 3) und dessen Programm diskutiert. Abschliessend wird kurz aufgezeigt, wie die Einheit des Werkes sichergestellt werden konnte.
Retabel als Gemeinschaftswerke
In Graubünden wurden Retabel vor allem durch die Gemeinden in Auftrag gegeben.[3. Von Beckerath 1998i, S. 73.] Die ausführenden Werkstätten befanden sich primär im süddeutschen Raum. Dies lag zum einen an der geringen Zahl lokaler Handwerker, zum anderen an etablierten Handelsrouten, die Süddeutschland mit Graubünden verbanden.[4. Von Beckerath 1998ii, S. 82 und S. 118-123 zeigt die Handelswege auf; Menghini 1998i, S. 127 geht kurz auf die Zentren und Transportwege ein.]
Die Literatur geht davon aus, dass diese Handelswege bereits bei der Auftragsverteilung von Bedeutung waren. Süddeutsche Kaufleute nutzten ihre Kontakte zu Graubündner Gemeinden, um ihnen die heimischen Werkstätten zu empfehlen. Unter Umständen wurden sie von Mitgliedern dieser begleitet, die vor Ort ihre Dienste direkt präsentierten.[5. Von Beckerath 1998ii, S. 123.] Bei grösseren Vorhaben boten sie nicht nur die eigenen Gewerke feil. Als Werkverantwortliche[6. Menghini 1998ii, S. 128 führt aus, dass die Rolle meistens von den Malern übernommen wurde. Von Beckerath 1998ii, S. 83, lässt dies offen und nennt „Schreiner, Bildschnitzer oder Maler“.] vergaben sie Unteraufträge, organisierten den Transport der Einzelteile und deren Zusammenbau vor Ort.[7. Das Zusammenspiel zwischen Auftraggebern und Werkverantwortlichen kann in Graubünden aufgrund fehlender Dokumente nur bedingt nachvollzogen werden (Menghini 1998ii, S. 128). Eine detaillierte Abstimmung mit einer Visualisierung des Gesamtwerkes wie sie für das Retabel des Ulmer Münsters angenommen wird (Mengini 1998ii, S. 129) ist auf Grund der Entfernung nicht zu vermuten. Der finanzielle Aufwand und die Bedeutung der Retabel lassen es jedoch auch unwahrscheinlich erscheinen, dass die Auftraggeber nur die Masse ihres Altars sowie die ikonographische Richtung vorgaben und der Konzepteur die übrige Gestaltung entschied.]
Die Notwendigkeit, Gewerke an andere Handwerksbetriebe zu vergeben, resultierte vor allem aus den Regeln der Handwerkszünfte. Diese bestimmten unter anderem, welche Handwerke die einzelnen Gewerke ausführen durften[8. Huth 1967, S. 73] und verhinderten, dass einzelne Werkstätten mehreren Zünften angehörten.[9. Huth 1967, S. 74-76.]
Bei der Fertigung der Retabel waren vor allem vier unterschiedliche Gewerke zu unterscheiden. Tischler konstruierten den Mittelschrein wie auch die Predella nach den Massen und Vorgaben der Auftraggeber. Der holzsichtige, figürliche Schmuck wurde von Bildhauern gefertigt, die für das Material, die detaillierte Gestaltung wie auch das Einpassen in den Schrein verantwortlich waren. Die farbige Fassung und Vergoldung des Schreins wie auch der Figuren oblag den Fassmalern. Als viertes Handwerk sind die Maler anzuführen, die die Gemälde auf den Flügeln, der Rückseite des Schreins sowie der Predella gestalteten. Die Literatur zeigt, dass es trotz der Zunftregeln zu Überschneidungen kam: Die Maler übernahmen häufig zusätzlich die Aufgaben der Fassmaler. Einfache farbliche Fassungen, z.B. die Aussenseite der Schreine, konnten auch von Schreinern durchgeführt werden.
Nach der Fertigung der Bestandteile wurden diese gut verpackt an den Bestimmungsort transportiert und dort zusammengesetzt. Neben lokalen Handwerkern waren teilweise Mitarbeiter der Malerwerkstatt vor Ort, die dem aufgebauten Retabel abschliessend Gemälde und Vergoldungen hinzufügten.[10. Krebs 1993, S. 273.] Von den an der Herstellung des Retabels von St. Thomas Beteiligten ist nur Jörg Kändel aus Biberach namentlich bekannt. Dieser signierte auf der Rückseite und identifizierte sich als Maler.[11. Die Signatur in schwarzer Farbe am unteren Rahmen lautet „jörg kendel maller zu bibrach“. Ältere Literatur diskutiert, ob Kändel auch als Bildhauer tätig war, verneint dies aber letztlich.] Andere Meister oder Werkstätten sind nicht überliefert. Wie dieser dürften auch sie in den schwäbischen Zentren anzusiedeln sein.
Form und Dekoration des Flügelretabels aus St. Thomas
Das Retabel von St. Thomas ist nur in Fragmenten erhalten: Um das Gesamtprogramm es Retabels fundiert zu diskutieren, sind die fehlenden Komponenten zu rekonstruieren. Diese sind zum einen am Erhaltenen abzulesen. Vergleiche mit ähnlichen Retabeln liefern zusätzliche Hinweise zur Form und Gestaltung.[12. Neben dem Retabel aus St. Martin / Filisur werden jenen Altaraufsätze herangezogen, die die Literatur Jörg Kändel, oder seinem Umfeld zuschreibt. Es sind dies die Retabel aus St. Blasius / Tinizong (signiert, datiert 1512), St. Martin / Platta (signiert, datiert 1516), St. Martin / Platta (Werkstatt, um 1520) und St. Martin / Brigels (Werkstatt / datiert 1518).]
Zumeist stand der Betrachter dem geschlossenen Flügelretabel gegenüber. Auf der Mensa stand eine Predella, deren Mittelteil sich in den Schrein hinein wölbte.[13. Diese Form erschliesst sich aus dem Dekor des Mittelschreins. Unterhalb der Bühne zeigt dieser geschnitztes und vergoldetes Rankenwerk. Mittig wurde ein Bogenfeld ausgespart, vor das sich die Erhöhung der Predella schob. Halbauer 1993, S. 343, Anm. 52 weist darauf hin, dass nur wenige Meister, unter anderem Jörg Kendel, dieser Gestaltung nutzten.] [14. Höhe und Breite der Predella lassen von der erhaltenen Rückwand ablesen. Es kann angenommen werden, dass diese original zum Retabel gehörte. Zum einen wurden beide gemeinsam erworben, zum anderen stimmt ihre Standbreite mit der Breite des Schreins überein.] Ähnliche Predellen präsentierten hier meist Christus inmitten der Apostel (Abb. 4, 5, 6). [15. Gemäss Flühler-Kreis 1998, S. 48, Fussnote 25, nutzten ~60% der Retabel dieses Motiv. Beispiele sind die Altaraufsätze aus St. Martin / Filisur (Abb. 7) und St. Martin / Platta (Abb.09). Andere Retabel, beispielsweise jenes aus St. Martin / Brigels (Abb. 10), gaben Heilige wieder.] Vermutlich nutzte auch das Retabel aus St. Thomas dieses Motiv. Hierfür sprechen seine Zuordnung zum Hochaltar und das Patrozinium der Kirche.[16. Flühler-Kreis 2007, S. 69 und S. 72 verweist auf Zugehörigkeit des Retabels zum Hochaltar.Die ältere Literatur negiert dies jedoch (KDM GR 4, S. 118, Fussnote 1).]
Die Form der Flügel nahm Bezug auf Schrein wie auch Unterbau: oben folgten sie dem Kleeblattbogen[17. Für Ulm zeigt Halbauer 1993, S. 330 ff. eine tendenzielle zeitliche Abfolge von Retabel-Formen.], unten sparten sie das Mittelteil der Predella aus. Ihre Dekoration ist nicht sicher zu bestimmen. Häufig zeigten die Aussenseiten der Flügel Gemälde von Ortsheiligen.[18. Setzler 1993, S 347.] Für das Retabel von St. Thomas kann hier eine Darstellung des Kirchenpatrons vermutet werden. Thema der Bilder war unter Umständen die Szene des „Thomaszweifels“. Der eine Flügel hätte dann den Apostel Thomas, der andere Christus mit den Wundmalen gezeigt. Apostel oder Heilige schmückten vermutlich auch die Standflügel die links und rechts an den Schrein anschlossen.[19. Vertikale Nuten an den Seitenwänden des Schreins belegen die Standflügel, zu deren Befestigung sie dienten. Die Form und Ausgestaltung der Standflügel ist im Detail nicht zu rekonstruieren, dürfte jedoch jenen des Retabels von St. Martin / Brigels (Abb. 10) entsprechen.] Unten ruhten diese auf der Predella; oben endeten sie mit Masswerk.
Die erhaltenen Ansätze zeigen, dass der Schrein selbst ebenfalls von einem Masswerkkamm bekrönt wurde. Hinter diesem erhob sich das Gesprenge, welches vermutlich drei von Architektur eingefasste Figuren zeigte.[20. Heute zeugen nur noch elf Stecklöcher im Schreindach von diesem. Der Aufbau dürfte jenem des Retabels von St. Martin / Platta ähneln, der im 20. Jahrhundert erneuert wurde.] Diese können nicht eindeutig identifiziert werden. Zeitgleiche Graubündner Altaraufsätze präsentierten bevorzugt die Kreuzigungsgruppe mit Maria und Johannes.[21. Flühler-Kreis 1998, S. 48.] Für Ulmer Marienretabel werden die Motive Anna Selbdritt und Marienkrönung genannt.[22. Setzler 1993, S. 348; Flühler-Kreis 1998, S. 48 erwähnt ebenfalls die Marienkrönung.]
An ausgewählten Feiertagen wurde das Retabel geöffnet und die Verkündigung im Inneren enthüllt. Die zentrale Szene ist weitgehend original erhalten. Lediglich die Begleitfiguren sind nicht eindeutig zugeordnet. Die Kataloge zeigen meist Lucius und Emerita direkt neben Engel und Maria. Die Restaurierung 1989 ergab jedoch, dass rechts vermutlich die Figur des hl. Oswald stand.[23. Hinweise darauf geben die im Beinbereich durchgängig vergoldete Rückwand des Schreins sowie die Dimensionierung des Sockelbereichs der Figur.] Auf der linken Seite ist eine Skulptur des hl. Bonifatius anzunehmen, des zweiten Nebenpatrons der Kirche.
Die Innenseiten der Flügel präsentierten zumeist Heilige, die entweder als Malerei oder als Plastik ausgeführt wurden. Zusammen mit dem Schrein erwarb das Museum sechs Skulpturen.[24. Aufgrund des Ankaufs von der gleichen Gemeinde kann von einer engen Verbindung mit den Retabel ausgegangen werden. Die Figuren weisen zudem grosse Ähnlichkeiten mit der Marien- und Engelsfigur auf. Beide Gruppen zeigen den Parallelfaltenstil, eine Gestaltung der Kleidung die für Schnitzereien nach 1500 nachgewiesen wurde (Baum 1917).] Zwei von ihnen, Johannes den Täufer und ein heiliger Abt, sind vermutlich in den Flügeln zu verorten.[25. Beide Figuren weisen im Sockelbereich bogenförmige Aussparungen auf, die sich in den unteren Abschluss der Flügel fügen. Die sichtbaren, geraden Sockel sind Ergebnis einer Überarbeitung im 20. Jahrhundert.] Sie füllten diese nicht aus liessen jedoch gleichzeitig wenig Raum für weitere Skulpturen (Abb. 7, 8). Vermutlich wurden sie durch Malerei und Schleierwerk ergänzten. Alternativ könnten jeweils zwei der anderen Figuren in den Flügeln Platz gefunden haben (Abb. 9). Hierfür sprechen die Sockelbreite der Skulpturen, die sich gut in den Flügel einfügt, die Gewichtung männlicher und weiblicher Protagonisten sowie die Anordnung letzterer auf der Seite Marias.
Die Rückseite des Retabels ist weitgehend erhalten und bedarf keiner Rekonstruktion. Zu ergänzen sind lediglich die Standflügel, vermutlich mit Heiligenfiguren bemalt, sowie die Rahmung der Predella (Abb. 10). Als Vorlage des Weltgerichts diente der 1505 veröffentliche Holzschnitt Hans Baldungs (Abb. 11). Jörg Kändel modernisierte die Komposition und verlieh der Darstellung Tiefe: Die Wolkenformationen gliedern den Raum in drei hintereinander liegende Ebenen. Der mittig eingefügte Auferstehende lenkt den Blick des Betrachters in die Tiefe.
Ikonographie der einzelnen Elemente und deren Zusammenspiel
Die Rekonstruktion des Retabels verdeutlicht, dass dem Betrachter drei Ansichten geboten wurden. Der geschlossene Altar präsentierte ihm eine Darstellung, die sich aus den Gemälden der Flügelaussenseiten und den Standflügeln zusammensetzte. An hohen Feiertagen öffnete man den Schrein.[26. Rimmele 2010, S. 53-52, zeigt auf, dass die Öffnung der Retabel, die Häufigkeit wie auch der Akt selbst, nicht einheitlich geregelt war, sonder sehr individuell gehandhabt wurde.Dennoch wird folgend vereinfachend von „Werktagsseite“ und „Festtagsseite“ gesprochen.] Die erste Wandlung enthüllte die prunkvolle Verkündigung an Maria, gerahmt von Heiligenfiguren. Beide integrierten die Vorderseite der Predella wie auch die Figuren im Gesprenge. Die Retabel-Rückseite zeigte das Weltgericht und die Vera Icon.
Die Festtagsseiten der Graubünden Retabel fokussierten meist auf mariologische Szenen.[27. Flühler-Kreis1998, S. 47, führt aus, dass ca. 80% der Retabeln Maria als zentrale Figur zeigen.] Dieser Schwerpunkt geht auf lokale Traditionen zurück[28. Die im 13.Jahrhundert fertiggestellte Kathedrale in Chur wurde Maria geweiht.], entspricht jedoch auch allgemeinen Gepflogenheiten der Zeit.[29. Setzler 1993, S. 345, führt dies für die in Ulm entstandenen Retabel aus. Sie erklärt den Fokus auf Maria mit dem Verständnis der Retabel als „Bundeslade des Neuen Bundes“. Ein Begriff der gleichzeitig als Beiname Marias verwendet wurde (Salzer 1967, S. 10-12).] Die Verbindung zwischen Dargestelltem und dem Ort seiner Präsentation scheint bei der Verkündigung besonders eng. Der Schrein lässt sich aufgrund der Form mit Maria gleichsetzen: beide tragen das Wort Gottes in sich.[30. Salzer 1967, S. 10, 36, 94 und 340.] Mit dem Öffnen des Schreins wendet sich Gottvater nicht nur an Maria, sondern auch an die Gläubigen.
Die Rolle Marias als Muttergottes wird im Schrein von St. Thomas vielfältig adressiert. Zum einen fallen die Proportionen der knienden Maria auf, deren gebauschtes Gewand die Schwangerschaft vorwegzunehmen scheint. Zwischen Engel und Maria steht ein weisses Gefäss auf einem Buch. Analog zur unbefleckten Empfängnis entspringt diesem durch das Wort Leben, hier in Form einer Blume.[31. Die heute sichtbare Pflanze, eine Tulpe, ist eine spätere Ergänzung. Hingegen ist das Gefäss, das die beiden Figuren verbindet, original und bezeugt, dass auch ursprünglich eine Blume vorhanden war. Durch die Verbindung mit Maria kann eine weisse Lilie angenommen werden.] Deren Blüte ist ebenfalls in der Farbe der Unschuld gefasst. Die mittelalterliche Literatur bezeichnet Maria selbst häufig als Gefäss.[32. Salzer 1967, S. 17.] Auch die in die Rückwand gravierten Granatäpfel verweisen auf Fruchtbarkeit und Empfängnis.[33. Online Seite des Reallexikons der Deutschen Kunstgeschichte, zugegriffen am 06. Mai. (http://www.rdklabor.de/wiki/Granatapfel,_Granatapfelbaum#III._Bildmotiv).]
Im Gegensatz zum Inneren des Schreins war die Vorderseite der Predella für den Besucher kontinuierlich sichtbar und musste eine eigenständige Wirkung erzielen. Die Darstellung Christi inmitten der Apostel ist eng mit dem Letzten Abendmahl verbunden. Auf dem Altar platziert, verschmolzen Bild und Raum zu einer Einheit. Die Mensa übernahm die Funktion des Abendmahltisches, an dem Christus gesessen hatte. Das darauf stehende liturgische Gerät wurde sein Tafelgeschirr. Bei der Eucharistie übernahm der Priester die Rolle Christi, der mit der Wandlung quasi aus dem Bildnis in den Kirchenraum trat. Die Umsetzung des Motives als Relief, das teils vergoldet, teils farblich gefasst war, verstärkte diese Vorstellung.
Beim Öffnen des Schreins rückte die Bedeutung des Abendmahls in den Hintergrund. Die erhöhte Position, die Grösse wie auch die prachtvolle Ausgestaltung stellte die Verkündigung an Maria in den Mittelpunkt. Gleichzeitig fügten sich beide Motive zu einem, von oben nach unten zu lesenden Gesamtbild. In der Verkündigung führte das Wort Gottes zur Empfängnis und damit zu seiner Inkarnation. Beim Abendmahl gab Christus diese Essenz in Form des Brotes und des Weins weiter. Die Transsubstantiation durch den Priester schloss hieran an und nahm die Gläubigen in die Kette auf.[34. Die enge Verbindung von Retabel und Transsubstantiation beschreibt Rimmele 2010, S. 56-57.] Die Kirche wirkte jedoch nicht nur als Vermittlerin des Wortes. Der architektonische Aufbau der Predella und ihre Formensprache referenzierten die Rolle der Kirche als Beschützerin und Bewahrerin.
Auch die Motive der Rückseite standen in engem Zusammenhang mit der Funktion des Altars bzw. des Raumes dahinter. Der Bereich, den das Retabel vom restlichen Kirchenraum weitgehend abtrennte[35.
Von dem Kirchenbau des 16. Jahrhunderts ist der Chor erhalten, der heute als Sakristei dient. An seiner der breitesten Stelle misst er ca. 4 Meter. Nimmt man an, dass die Breite der Standflügel ca. 2/3 der Klappflügel betrug, so erstreckte sich das Retabel über ca. 2,5 Meter.], wurde häufig für die Abnahme der Beichte genutzt.[36. Flühler-Kreis 1998, S. 43; Setzler 1993, S. 346.] Das Weltgericht führte den Sündern die Konsequenzen ihres Handelns vor Augen und ermahnte sie, den rechten Weg einzuschlagen. Um die Folgen zu verdeutlichen, wich Jörg Kändel von der Vorlage ab und ordnete die Auferstehenden neu. Seine Komposition trennte die Seligen, links, eindeutig von den Sündern, rechts. Wo der mittig im Vordergrund eingefügte Auferstehende endet, wurde offen gelassen. Dem Betrachter wurde vor Augen geführt, dass er seine eigene Destination noch bestimmen konnte.
Die Rückseite der Predella zeigt das von zwei Engeln gehaltene Schweisstuch der Veronika.[37. Die Literatur verweist darauf, dass die meisten Retabel dieses Motiv dort nutzten (Flühler-Kreis 1998, S. 48; Setzler 1993, S. 348).] Die Vera Icon, als Teil der Arma Christi, integriert sich in das darüber liegende Weltgericht. Dort präsentieren zwei Engel, links und rechts von Christus, weitere Marterwerkzeuge. Für Gebete vor Abbildern der Vera Icon wurde besonderer Ablass gewährt.[38. Flühler-Kreis 1998, S. 48.] Die Anbringung an der Predella, die häufig Reliquien enthielt, referenzierte auch das in Rom aufbewahrte Reliquienbild.
Die Motive integrieren sich jedoch nicht nur auf jeder Seite, vertikal, zu einem Gesamten. Die Darstellungen der beiden Seiten verwiesen auch aufeinander. Aus formaler Sicht wurden sowohl die Verkündigung an Maria wie auch das Weltgericht als Dreieck angelegt. Beide Kompositionen zeigen die himmlischen Figuren leicht nach links versetzt. Unterschied im Material und in der damit verbundenen Plastizität relativierte Jörg Kändel, indem er im Gemälde Raumtiefe aufbaute. Auch bei den Motiven der Predella ähnelt sich die Konzeption. Beide rücken Christus ins Zentrum umgeben von Aposteln bzw. Engeln.
Aber die Bezüge reduzieren sich nicht auf formale Eigenschaften. Zusammenhänge liegen auch in den Bildinhalten. Die Vera Icon ist Berührungsreliquie und Acheiropoieton. Dem Akt der Bildentstehung entspricht die Wandlung während der Messe. Durch die Berührung mit Blut und Fleisch Christi werden Kelch und Patene quasi selbst zu Reliquien. Auch die Verkündigungsszene des Schreins und die Weltgerichtsdarstellung stehen in Verbindung. Erstere repräsentiert den Beginn des Neuen Bundes, letztere dessen Ende. Das Retabel schützte im übertragenen Sinne den Inhalt des Neuen Testamentes. Die architektonische Gestaltung wurde gewählt, um es mit der Kirche als Bauwerk aber auch als Institution gleichzusetzten. Letztere „besass“ die Deutungshoheit über das Wort Gottes und konnte die Gläubigen zur Auferstehung in den Himmel leiten.
Gesamtkonzept durch Tradition und Generalunternehmen
Das in sich stimmige Konzept des Retabels ist zum einen auf generelle künstlerische Traditionen zurückzuführen, die bestimmte Motive festschrieben und diesen feste Plätze zuordneten. Einen wesentlichen Beitrag leisteten aber auch die Generalunternehmer, die die Retabel entwarfen, deren Herstellung koordinierten und Komponenten selbst fertigten.[39. Menghini 1998 i, S. 129.] Für das Retabel aus St Thomas wird Jörg Kändel diese Rolle zugeschrieben.[40. Flühler-Kreis 2007, S. 174] Obschon das Gelingen wesentlich von diesen abhing, wird ihre Rolle in der Literatur kaum behandelt und wenig honoriert.[41. Zumeist wird das Buch Hans Huths Buch “Künstler und Werkstatt der Spätgotik” zitiert, dass im Wesentlichen bereits 1925 veröffentlicht wurde.]
Literatur
Baum 1917: Julius Baum, Deutsche Bildwerke des 10.-18. Jahrhunderts, Stuttgart 1917.
Böhling 1932: Luise Böhling, Jörg Kändel von Biberach und die Altäre des Parallelfaltenstils in der Schweiz, Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde (Neue Folge), Bd. 34, Heft 1, 1932, S. 26-38.
Flühler-Kreis 2007: Dione Flühler-Kreis, Peter Wyer (Hrsg.), Die Holzskulpturen des Mittelalters, Bd. 2, Katalog der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich, Zürich 2007.
Flühler-Kreis 1998: Dione Flühler-Kreis, Funktion, Form und Bildprogramm spätgotischer Flügelaltäre, in: Astrid von Beckerath, Marc Antoni Nay, Hans Rutishauser (Hrsg.), Spätgotische Flügelaltäre in Graubünden und im Fürstentum Lichtenstein, Chur 1998, S. 43-56.
Halbauer 1993: Karl Halbauer, Form und Ornament der Ulmer Schnitzretabel von 1480 bis 1530, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hrsg.), Meisterwerke Massenhaft – die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, S. 328-343.
Huth 1967: Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Darmstadt 1967.
Inventar 2015i: Informationen aus dem Inventar des Schweizerischen Nationalmuseums, Objektnummer LM 7207, eingesehen am 05. März 2015.
Inventar 2015ii: Informationen aus dem Inventar des Schweizerischen Nationalmuseums, Objektnummer LM 7211, eingesehen am 05. März 2015.
KDM GR 4: Erwin Pöschel, Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden, Bd. 4, Die Täler des Vorderrhein, 1. Teil, Das Gebiet von Tamis bis Somvix (Die Kunstdenkmäler der Schweiz, Bd. 13), Basel 1942.
KDM GR 1: Erwin Pöschel, Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden, Bd. 1, Die Kunst in Graubünden ein Überblick (Die Kunstdenkmäler der Schweiz, Bd. 8), Basel 1937, S. 127-128.
Krebs 1993: Elisabeth Krebs, Der Schrein – mehr als eine Kiste? Konstruktionsmerkmale von Ulmer Retabeln, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hrsg.), Meisterwerke Massenhaft – die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, S. 264-275.
Menghini 1998i: Giovanni Menghini, Altarretabel – Gemeinschaftswerke des Handwerks und der bildenden Künste, in: Astrid von Beckerath, Marc Antoni Nay, Hans Rutishauser (Hrsg.), Spätgotische Flügelaltäre in Graubünden und im Fürstentum Lichtenstein, Chur 1998, S. 127-136.
Menghini 1998ii: Giovanni Menghini, Katalog der spätgotischen Flügelaltäre in Graubünden, in: Astrid von Beckerath, Marc Antoni Nay, Hans Rutishauser (Hrsg.), Spätgotische Flügelaltäre in Graubünden und im Fürstentum Lichtenstein, Chur 1998, S. 229-271.
Perret 1994: René Perret, Katalogeintrag 135, in: Peter Jetzler (Hrsg.), Himmel, Hölle, Fegefeuer Das Jenseits im Mittelalter (Katalog des Schweizerischen Landesmuseums Zürich), Zürich 1994, S. 346-347.
Rimmele 2010: Marius Rimmele, Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort, Semantisierung eines Bildträgers, München 2010
Salzer 1967: Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters, Darmstadt 1967.
Setzler 1993: Sibylle Setzler, Bildprogramme schwäbischer Retabel der Spätgotik, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hrsg.), Meisterwerke Massenhaft – die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, S. 345-355.
Von Beckerath 1998i: Astrid von Beckerath, Die Auftraggeber, in: Astrid von Beckerath, Marc Antoni Nay, Hans Rutishauser (Hrsg.), Spätgotische Flügelaltäre in Graubünden und im Fürstentum Lichtenstein, Chur 1998, S. 57-79.
Von Beckerath 1998ii: Astrid von Beckerath, Die Werkstätten, in: Astrid von Beckerath, Marc Antoni Nay, Hans Rutishauser (Hrsg.), Spätgotische Flügelaltäre in Graubünden und im Fürstentum Lichtenstein, Chur 1998, S. 81-125.
Westhoff 1993: Hans Westhoff, Roland Hahn, Elisabeth Krebs, Verzierungstechniken an spätmittelalterlichen Altarretabeln, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hrsg.), Meisterwerke Massenhaft – die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, S. 294-299.
Wüthrich 1996: Lucas Wüthrich, Mylène Ruoss (Hrsg.), Katalog der Gemälde, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Zürich 1996.