Fortsetzung von: Digitalisierung: Legitimation durch Verschleierung?
Eine naive Technikeuphorie ist gefährlich. Denn nur weil etwas technisch möglich ist, heisst das noch lange nicht, dass jede Anwendung auch sinnvoll ist – oder präziser: sinnvoll wozu und für wen? Wir sollten uns daher stets Rechenschaft darüber ablegen, was der Mehrwert digitaler Technologien ist – gleichzeitig aber auch stets mit bedenken, welche Risiken damit verbunden sind. In diesem Sinne sollten wir agency einfordern – beziehungsweise sie uns nehmen. Wir sollten den Einsatz digitaler Technologien aktiv mitgestalten – und sei es nur, indem wir zum begründeten Urteil kommen, dass sie in gewissen Fällen nichts verloren hat. Die rasante technologische Entwicklung lässt die Kluft zwischen dem, was technisch möglich ist und dem mangelnden Vermögen wie der fehlenden Sensibilisierung, dieses Potenzial in kritischer Weise anzuwenden und zu bewerten, immer grösser werden.
Dies gilt nicht zuletzt auch auf wissenschaftlichem Gebiet. Die Einzelwissenschaften sind heute schon so stark ausdifferenziert und spezialisiert, dass wirkliche Expertise nur noch in einem sehr engen Bereich erworben werden kann. Sich dabei auch noch vertiefte Kenntnisse digitaler Technologien anzueignen, ist häufig schon aus Kapazitätsgründen nur schwer möglich. Das ist aber auch nicht unbedingt nötig. Vielmehr reicht es aus, sich der Gefahren und Risiken bewusst zu werden und zumindest ein Grundverständnis dafür zu gewinnen, wo mögliche Probleme lauern könnten. Was nötig ist, ist eine kritische Grundhaltung gegenüber digitalen Technologien. Wir sollen daher stets Rechenschaft verlangen und Erklärungen einfordern: warum ist der Einsatz digitaler Technologien in bestimmten Bereichen sinnvoll? Was ist der Nutzen? Welche Risiken sind damit verbunden? Letztlich geht es darum, die methodische Kernkompetenz der Geschichtswissenschaft auf digitale Technologien anzuwenden: die Quellenkritik. Alles kann, richtig befragt, zu einer Quelle werden, die Auskunft über die Vergangenheit bietet. Entscheidend ist dabei aber immer das Erkenntnisinteresse. Auch mit digitalen Technologien sollten wir analog verfahren: sie aktiv nutzen, aber sie stets von unseren explizit formulierten Bedürfnissen ausgehend als Instrument betrachten, die uns helfen, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Nur zu oft geschieht es genau umgekehrt: als Grundbedürfnis wird die Anpassung an das digitale Zeitalter gefordert, wobei dann Arbeitsabläufe umgestellt und Strukturen angepasst werden, ohne genau zu wissen, wem dies letztendlich zu Gute kommen soll.
Nicht selten stehen dahinter ökonomische Interessen der Computer- und Softwareindustrie, die in der unbedarften Euphorie von Technikenthusiasten Verbündete finden. Wer will heute schon zugeben wollen, ein Problem mit dem klassischen Instrumentarium gleich gut oder besser lösen zu können als mit dem Computer, wenn man dabei droht in den Ruf der Technikverweigerung zu geraten? Der Diskurs zwingt zur Technik-Bejahung.
Sehr viel seltener ist der Mahnruf zu hören, es sei zu hinterfragen, was die Maschine mit unseren Daten macht. Vielmehr haben wir uns durch die ubiquitäre Verbreitung von digitalen Medien an technischen „Output“ gewöhnt (in Form von Text, Tabelle, Datenbank, Bild, Audio, Video, Applikation etc.). Gerade im Alltag geschieht die kritische Auswertung kaum. Umso mehr gilt es, das Verständnis dafür zu schärfen, dass digitale Prozesse keine rein mechanische Verarbeitung sind, deren Verarbeitungsschritte auch für Laien empirisch leicht zu durchschauen sind. Vielmehr funktioniert Digitaltechnik eher nach dem Prinzip einer gesteuerten Inszenierung und Manipulation, die beeindruckende Effekte zu erzeugen im Stande ist, gerade deswegen aber auch kaum mehr transparent ist: eine Art digitaler „Zaubertrick“. Was wir also in unserem eigenen Interesse brauchen sind Fähigkeiten und Verständnis im Umgang mit Digitaltechnologie. Solche „digital skills“ umfassen die Sensibilisierung für die grundsätzliche Funktionsweise technischer Abläufe und Manipulationsmöglichkeiten. Nur so kann das Resultat kritisch bewertet werden.
Genau dies ist der Ausgangspunkt des Projektes „Digitale Leistungsnachweise“: es sind diese Fähigkeiten, die in den drei Lehrveranstaltungen zusammen mit Studierenden exemplarisch eingeübt werden sollen. Dazu dienen drei unterschiedliche mediale Formate beziehungsweise digitale Technologien. Wir werden dazu nicht bloss bestehende digitale Angebote nutzen, bestehenden Output nicht nur konsumieren, sondern selber aktiv produzieren. Wer selber unmittelbar digitale Daten am Computer manipuliert, gewinnt ein viel differenzierteres Gespür für die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Technologie als es jede indirekte Vermittlung je könnte. Es steht also nicht allein der Output im Fokus der Arbeit, sondern der gesamte Arbeitsablauf: Datenbanken, Algorithmen und Workflows sollen in der praktischen Arbeit als Werkzeuge unmittelbar erfahren werden, um selbständig Kriterien für eine kritische Haltung ihnen gegenüber zu entwickeln. So werden digitale Produkte im praktischen Einsatz auf ihre Produktionsbedingungen hinterfragt. Gerade in der Wissenschaft ist ein gut ausgestatteter methodischer Werkzeugkasten wichtig, aber auch die Kenntnis, wann welches Werkzeug einzusetzen ist und welchen Mehrwert es generiert.