Fortsetzung von: Was gegen die „Digitalisierung“ spricht
Wir müssen Verfügungsgewalt über digitale Technologien einfordern: im 21. Jahrhundert wird dies eines der wichtigsten Rechte in Ergänzung zu den klassischen Menschenrechten sein, wie wir sie seit der Aufklärung kennen. Schon heute sind Softwarekonzerne dabei, weitgehend ohne unsere bewusste Steuerungsmöglichkeit mit unseren Daten ihre Interessen zu verfolgen. Dies ist aber nur die Spitze des Eisberges: weit subtiler wird unser Alltag, zumindest die Erwerbsarbeit, immer mehr von neuartigen Konfigurationen durchdrungen, die uns ein Raster vorgeben, in dem wir unsere Handlungen vollziehen: Datenbanken, Algorithmen und Workflows – von der Hardware gar nicht zu reden – nehmen uns immer mehr Entscheidungen ab. Kommt das nicht einer Entmündigung gleich? Und welche Interessen stehen letztlich dahinter? Sind es denn wirklich Datenbanken, Algorithmen und Workflows, die uns Vorgaben machen – oder stecken dahinter nicht vielmehr letztlich doch immer wieder Menschen, die sie programmiert und konfiguriert haben? Und haben nicht wir selber durchaus die Möglichkeit, mit diesen Datenbanken, Algorithmen und Workflows auf eigensinnige Weise umzugehen: sie also etwa auch schlicht zu ignorieren?
Es ist klar: bei der Rede von der „Herausforderung der Digitalisierung“ kann es durchaus Kalkül sein, die Akteure zu verschleiern. Wer sein Anliegen in der Sprache der Digitalisierung – oder eben in der Form der Datenbank, des Algorithmus und des Workflows – formuliert, kann das Argument der unumgänglichen Notwendigkeit ins Feld führen und damit von seinen eigenen Interessen ablenken. Es geht also um die klassische Frage, wie Macht legitimiert und verschleiert wird: Legitimation durch Verschleierung. Daher ist die Entscheidung darüber, in welcher Form welche Art digitaler Technologien eingesetzt werden sollen eine eminent politische Frage. Die Diskussion darüber sollte stets geführt werden, ohne „Digitalisierung“ a priori als unhinterfragbare Tatsache vorauszusetzen.
Denn digitale Technologien sind mit sozialen Fragen eng verknüpft: wer verfügt über den Zugang zu digitalen Technologien und wer die nötige Expertise, sie zu steuern und zu manipulieren? Wer gerät dabei in Abhängigkeit und wer wird ausgeschlossen? Wenn die zunehmende „Akademisierung“ vieler Berufsfelder Menschen mit Lernschwierigkeiten in weniger prestigeträchtige Sparten verdrängt, so droht die „Digitalisierung“ gerade diese Bereiche auszutrocknen. Wer wird im Zeitalter autonomen Fahrens noch Geld mit Taxifahren verdienen? Plattformen wie Uber mögen als hybrides Übergangsphänomen das Problem illustrieren: das Geld verlagert sich von den Menschen hinter dem Steuer zu Software-Unternehmen, die von der mit dem Taxi zurückgelegten Strecke tausende von Kilometern entfernt sein können.
Zweifellos: nur Pessimisten werden dieses negative Szenario so konsequent zu Ende denken. Es gibt durchaus Bereiche, in denen digitale Technologien auch umgekehrt Subalterne ermächtigen. Dennoch erfordern digitale Technologien ein gewisses Expertenwissen sowie den Zugang zu entsprechender Hard- und Software, was Mechanismen sozialer Distinktion und neue Machtgefälle erzeugt. Daher ist es wichtig, die Frage digitaler Technologien nicht einer kleinen Gruppe von Fachleuten zu überlassen. Vielmehr ist sie als eine der zentralen politischen Fragen unserer Zeit zu betrachten. Genau deswegen sind bezüglich digitaler Technologien stets kritisch nicht nur die möglichen Vorteile, sondern auch auf die allfälligen Nachteile zu bedenken.
Fortsetzung: Naive Technikeuphorie und digitale Zaubertricks