M. Vitruuius per Iocundum solito castiga-
tior factus
, Venezia: Giovanni da Tridino, 1511, Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln, A04d; app. 917.




Andrea Palladio, Villa Rotonda, in: ders., I
Quattro Libri dell’Architettura
, Venezia: Do-
menicho de’ Franceschi, 1570, ETH-Biblio-
thek, Alte Drucke, RAR 439 q
.




Vitruuius Teutsch, hg. von Walther Her-
mann Ryff, Nürnberg: Petreius, 1548, Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln.




Heinrich Wölfflin, «Zur Lehre von den Pro-
portionen» (1889).




Kolossalordnung, Campidoglio (Stich 1568), Etienne Dupérac, In: Antonio Lafreri, Speculum Romanae Magnificentiae, Kapitolsplatz, um 1574. Rom, Bibliotheca Hertziana, fol. Tav. 99.



















Proportionen und Module


1. Der vitruvianische Mann
2. Musikanalogien von Alberti bis Palladio
3. Mittelalterliche Masssysteme in der Renaissance
4. Massengedanke und Kolossalordnung im Barock
5. Kunstgeschichtliche Literatur

1. Der vitruvianische Mann
Vitruv notiert bei seiner Behandlung der Tempelbauten, dass die Grundlage der Architektur in den Massen, der Gestalt und Proportion des Menschen liege (Vitruv III 1, 3). Daraus ist der «vitruvianische Mann» hergeleitet, der in zahlreichen Variationen in Architekturtraktaten der Renaissance vorkommt.1 Die in der Version Leonardo da Vincis bekannte Darstellung (um 1485–1490, Venedig, Galleria dell’Academia) ist im ersten illustrierten Vitruvdruck (1511) in ihre Teile ad circulum und ad quadratum getrennt worden. Spätere Vitruvdrucke haben diese Form übernommen (etwa Florenz: Giunta, 1513, fol. 42r und 42v, oder Strassburg: Knobloch, 1543, S. 70 und 71); schon in Cesare Cesarianos italienischer Vitruvübersetzung (1521) war sie hingegen wieder zusammengeführt und durch eine weitere Variante ergänzt worden.

Der «vitruvianische» Mann steht im Zusammenhang mit der in Platons Timaios entwickelten Analogie des menschlichen Körpers als Mikrokosmos einer makrokosmischen Harmonie der Planetenkörper. Francesco di Giorgio Martinis Manuskript gebliebene Architekturtraktate (vor 1486 und nach 1493) weisen die ausführlichsten «wörtlichen» Anwendungen dieser «kosmischen» Analogie zwischen Mensch und Architektur auf. Die von ihm vorgenommenen Einschreibungen eines Mannes in die Grundrisse einer befestigten Stadt und einer Kirche kehren, im Kirchengrundriss, etwa in Pietro Cataneos I quattro primi libri di Architettura (1554) wieder. Diese architektonischen Christianisierungen platonischen Gedankenguts geht auf Augustinus zurück, der die Masse des Menschen aus der Arche und nicht Architektur aus jenen ableitet.2 Daran anknüpfend nennt Philibert De l’Orme in seinem Trakat Le premier tome de l’architecture (1567) «Des diuines proportions & mesures de l’ancienne & premiere Architecture des peres du vieil testament» («Epistres dedicatoire», fol. fol. ã4v; vgl. fol. fol. 3v). Dementsprechend bildet er das ionische Gebälk sowie die Masse eines Portals nach den «diuines mesure & proportions de l’escriture saincte» ab (fol. (fol. 166v und 232v).

Mit Francesco di Giorgio findet eine detaillierte Modularisierung über die Zuweisung menschlicher Masse an einzelne Architekturelemente statt. Verschiedene Versionen der in ein Tempelgebälk eingezeichneten Büste eines Mannes finden sich dann in vitruavianischen Drucken, so im spanischen Traktat Medidas del Romano (1526) von Diego Sagredo und dessen französischen Übersetzungen (1536, 1539).

Die Proportionierung einzelner Architekturteile nach «menschlichem» Mass ist zunehmend in eine Modularisierung nach «universalem» geometrischen Mass sowohl anlässlich der Systematisierung der Säulenordnungen, als dann auch bei Grund- und Aufrisszeichnungen übergegangen.

2. Musikanalogien von Alberti bis Palladio
Mit Leon Battista Albertis De Re Aedificatoria (entstanden zw. 1443 und 1452, Erstdruck 1485) wird die architektonische Proportionslehre als Ebenmass (concinnitas) ausdrücklich mit dem Begriff der Schönheit verknüpft. «Che la bellezza, è vn’ certo consenso, & concordantia delle parti […] qualmente la leggiadria [concinnitas] […] ricercaua» (Ausg. 1550, IX, 5). Diese Schönheitsauffassung veranschaulicht er anhand der sogenannten pyhtagoräischen Intervalle 1:2:3:4 mit ihren Proprotionen der Oktav, Quint, Quart und Doppeloktave (Ausg. 1550, IX, 5).3

Aus mittelalterlichen Enzyklopädien geläufige Illustrationen musikalischer Harmonien (übernommen etwa in Gregor Reischs Margarita Philosphica, von 1503 und später), sind dann in den spezialisierten Architekturtrakten der Zeit adaptiert worden, so etwa in Cesarianos Vitruvübersetzung. Mit Andrea Palladios I Quattro Libri dell’Architettura (1570) findet die Idee einer allgemeinen Modularisierung aufgrund harmonischer Proportionen sowohl einzelner Architekturelemente als auch der gleichzeitigen Abstimmung von Grund- und Aufrissproportionen Verbreitung.

3. Mittelalterliche Masssysteme in der Renaissance
In verschiedenen Renaissancedrucken leben mittelalterliche Proportionierungssysteme weiter. In Cesarianos italienischer Vitruvübersetzung erscheint als Entwurfssystem die Triangulatur mit dem Mailänder Dom illustriert (in der deutschen Vitruvübersetzung von Walther Hermann Ryff, 1548 und später, übernommen). Sebastiano Serlio bildet vergleichbar in seinem Architekturtraktat mit dem Buch zur Geometrie (Buch 1, 1545) die Konstruktion einer Kirchentür ab. Das ebenfalls mittelalterliche architektonische Verfahren der Quadratur erscheint im Druck erstmals im «Architekturroman» der Hypnerotomachia Poliphili (1499), wo nicht nur der Aufriss eines Portals abgebildelt, sondern das Verfahren auch als Erfindungshilfe beschrieben wird: «en l’inuention de l’Architecte, la regle principale & plus necessaire, c’est le le quarré».

4. Massengedanke und Kolossalordnung im Barock
Alois Riegl stellt in seiner Publikation «Die Entstehung der Barockkunst in Rom» von 1908 fest, dass im Gegensatz zum Mittelalter, wo jedes Gebäude autonom für sich betrachtet wurde, im Barock der Massengedanke aufkommt. Dieser lässt sich anhand der Entwurfspläne für das Campidoglio nachvollziehen. Michelangelos Auftrag bestand aus zwei Aufgaben: dem Senatorenpalast eine neue Fassade zu verleihen und den freien Platz davor in harmonischer Weise zu gestalten. Fassade und Platz sollten in Verbindung miteinander gesetzt werden und somit nach einer festgelegten Dominante (in diesem Fall das mittlere Fenster des Campidoglio) subordiniert werden.4 Ziel des Massengedanken war also, mehrere Gebäude in ihrer Gestaltung und Komposition aufeinander abzustimmen und eine harmonische Erscheinung der gesamten Architektur zu erreichen.
Im Barockstil und der Spätrenaissance wird die Kolossalordnung hauptsächlich von Michelangelo Buonarroti (1475-1564) und Andrea di Pietro della Gondola, genannt Palladio (1508-1580) entwickelt. Während in der antiken Architektur die Ordnung der Fassade lediglich auf ein Geschoss angewandt wurde, orientiert sich die Kolossalordnung nach Säulen-, Pfeiler- und Pilasterordnung, die auf zwei oder mehr Geschosse übergreifen. In der klassischen Antike wurden bei mehrgeschossigen Bauwerken der Reihe nach dorische, korinthische und ionische Säulenordnungen? übereinander gestellt, wie am Beispiel der Fassade des Palazzo Farnese sichtbar. Bei der Kolossalordnung hingegen ziehen sich die Säulen oder Pilaster über mehrere Geschosse hinweg und tragen das Gebälk (siehe Kolossalordnung, Campidoglio). Häufiges Merkmal ist zusätzlich das als Podium oder Sockel anmutende Erdgeschoss, welches nicht in die Ordnung einbezogen wird, sondern als Fundament der Geschosse dient.5

5. Kunstgeschichtliche Literatur
Kunstgeschichtliche Untersuchungen zur architektonischen Proportion finden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Verbreitung. Auf August Thiersch (1883) gestützt, hat Heinrich Wölfflin seinen Aufsatz «Zur Lehre von den Proportionen» (1889) mit Architekturbeispielen von der Antike bis zur Renaissance publiziert. Nach Erwin Panofskys weitergefasstem Aufsatz «Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung» (1921) hat Rudolf Wittkower mit dem Buch Architectural Principles in the Age of Humanism (1949) eine architekturbezogen einflussreiche Abhandlung publiziert; besonders Palladios Architektur wird da (zuerst 1944) anhand «Schematisierter Grundrisse der Villen Palladios» auf einen «harmonischen» Grundtyp zurückgeführt.


Anmerkungen
1. Naredi-Rainer, «Mensch und Mass», in: ders., Architektur und Harmonie, 2001, S. 82–103, hier 84–90.
2. Braunfels, «Vom Mikrokosmos zum Meter», 1973, S. 54; Naredi-Rainer, «Mensch und Mass», in: ders., Architektur und Harmonie, 2001, S. 84.
3. Wittkower, Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, 1983, S. 15, 92–102; Braunfels, «Vom Mikrokosmos zum Meter», 1973, S. 54; Naredi-Rainer, «harmonia – ordo – concinnitas», in: ders., Architektur und Harmonie, 2001, S. 11–32, hier 22–24; Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, 1991, S. 51.
4. Alois Riegl, «Werden des Barockstiles», in: ders., Die Entstehung der Barockkunst in Rom, Wien: Schroll, 1908, S. 73.
5. Pevsner et al.: Lexikon der Weltarchitektur, S. 331, 1971.



Bibliographie
Braunfels, Sigrid, «Vom Mikrokosmos zum Meter», in: Der «vermessene» Mensch: Anthropometrie in Kunst und Wissenschaft, München: Moos, 1973, S. 42–73.
Ceccarelli Pellegrino, Alba, «Sacre scritture, divine proporzioni e honnêteté nell’architetture di Philibert De l’Orme», in: Il sacro nel Rinascimento, Atti del XII Convegno internazionale, Chianciano-Pienza, 17–20 Iuglio 2000, Firenze: Cesati, 2002 (Quaderni della Rassegna; 22), S. 181–218.
Doorly, Patrick, «Dürer’s ‹Melencolia I›: Plato’s Abandoned Search for the Beautiful», in: The Art Bulletin, 86 (2), June 2004, S. 255–276.
Galli, Giovanni, «A Regulated Suasion: The Regulating Lines of Francesco di Giorgio and Philibert De l’Orme», in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 2002 (65), S. 95–131.
Graf, Hermann, Bibliographie zum Problem der Proportionen. Literatur über Proportionen, Mass und Zahl in Architektur, Bildender Kunst und Natur, Speyer: Pfälzische Landesbibliothek, 1958.
Hart, Vaughan, «Introduction: ‹Paper Palaces› from Alberti to Scamozzi», in: ders., (Hg.), Paper Palaces. The Rise of the Renaissance Architectural Treatise, New Haven, CT/London: Yale University Press, 1998, S. 1–29, hier 18–27.
Llewellyn, Nigel, «Two Notes on Diego da Sagredo», in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 1977 (4), S. 292–300.
Kruft, Hanno-Walter, Geschichte der Architekturtheorie: von der Antike bis zur Gegenwart (1985), 3., durchge. und erg. Aufl., München: Beck, 1991.
Lowic, Lawrence, «The Meaning and Significance of the Human Analogy in Franceso di Giorgio’s Trattato», in: Journal of the Society of Architectural Historians, 42 (4), Dec. 1983, S. 360–370.
Millon, Henry, «The Architectural Theory of Francesco di Giorgio», in: The Art Bulletin, 9 (3), Sept. 1958, S. 257–261.
Naredi-Rainer, Paul von, «Musikalische Proportionen, Zahlenästhetik und Zahlensymbolik im architektonischen Werk L. B. Albertis», in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes der Universität Graz, 12, 1977, S. 81–213.
Naredi-Rainer, Paul von, «Raster und Modul in der Architektur der italienischen Renaissance», in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 23 (3), 1978, S. 139–162.
Naredi-Rainer, Paul von, Architektur und Harmonie. Zahl, Mass und Proportion in der abendländischen Baukunst (1982), 7., überarb. Aufl., Köln: Du Mont, 2001.
Oechslin, Werner, «‹Vitruvianismus› in Deutschland», in: Ulrich Schütte (Hg.), Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg und Frieden, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek, 1984 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; 42), S. 52–76, Abb. S. 54–57.
Panofsky, Erwin, «Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung» (1921), in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer u. Egon Verheyen, Berlin: Spiess, 1992, S. 169–204.
Pérez-Gómez, Alberto, «The Glass Architecture of Fra Luca Pacioli», in: Architectura, 28 (2), 1998, S. 156–160.
Nikolaus Pevsner, John Feleming, Hugh Honour (Hrsg.): Lexikon der Weltarchitektur, Darmstadt 1971.
Riegl 1908: Alois Riegl, «Werden des Barockstiles», in: ders., Die Entstehung der Barockkunst in Rom, Wien: Schroll, 1908, S. 55-90.
Speich, Nikolaus, Die Proportionslehre des menschlichen Körpers. Antike, Mittelalter, Renaissance, Diss. Universität Zürich, Andelfingen: Buchdruckerei Akeret, 1957.
Scholfield, P[eter] H[ugh], The Theory of Proportion in Architecture, Cambridge: Cambridge University Press, 1958.
Steuben, Hans von, Der Kanon des Polyklet: Doryphoros und Amazone, Tübingen: Wasmuth, 1973.
Thiersch, August, «Die Proportionen in der Architektur», in: Architectonische Composition. Allgemeine Grundzüge, Darmstadt: Diehl, 1883 (Handbuch der Architektur; 4 [1]), S. 38–77.
Wittkower, Rudolf, «Principle’s of Palladio’s Architecture», in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 7, 1944, S. 102–122.
Wittkower, Rudolf, Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus (engl. 1949/1962), München: DTV, 1983.
Wölfflin, Heinrich, «Zur Lehre von den Proportionen» (1889), in: ders., Kleine Schriften 1886–1933, hg. von Joseph Gantner, Basel: Schwabe, 1946, S. 48–50.
Zöllner, Frank, Vitruvs Proportionsfigur. Quellenkritische Studien zur Kunstliteratur im 15. und 16. Jahrhundert, Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft, 1987.
Page last modified on July 18, 2013, at 12:03 AM