Hans Jakob Haltiner und Salomon Welti, Reformierte Kirche Horgen (1779–1782)



1. Lage der Kriche
Die Kirche befindet sich auf der Gemeinde Horgen, die heute in 17 Minuten vom Hauptbahnhof Zürich zu erreichen ist. Das Dorf Horgen entwickelte sich wie üblich für Seegemeinden entlang eines zum See runterfliessenden Bachs, quer zum Seebecken. Bis im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hob sich die Kirche noch deutlich vom umliegenden Dorf ab. Horgen und seine Kirche waren im Frühmittelalter Besitztum der Fraumünsterabtei. Als wichtiger Umschlagplatz am See wurde es u.a. dank seiner blühenden Textilindustrie und regen Landwirtschaft wohlhabend.

2. Baugeschichte der Kriche
Der heutigen Kirche gehen zwei frühere Bauwerke voran: Ein Bau aus dem späten 12. Jahrhundert, der im Zürichkrieg bedeutende Schäden erlitt und ein zweiter im 17. Jahrhundert, der schon ein Jahrhundert später wegen Baufälligkeit und einem als gefährlich geltenden Turm abgerissen wurde. An dessen Stelle wurde der bis heute erhaltene Neubau von 1779-1782 errichtet. 1780 war eine Renovation der Kirche geplant mit Abbruch des noch aus dem Mittelalter stammenden Turms, doch noch bis im Juni desselben Jahres wurde entschieden, den Grundstein für einen völlig neuen Bau zu legen. Der Engemer Zimmermeister Salomon Welti (1740-1798) reichte den Riss (Plan) ein und kurz darauf wurde ein Modell geschaffen. Der Rheintaler Baumeister Hans Jakob Haltiner (1728-1800) erhielt den Auftrag. Sein Bautrupp bestand hauptsächlich aus Tiroler Maurern und wurde durch Frondienstleistungen der Gemeinde unterstützt. Die Kanzel stammt von Johann Beck aus Bremgarten, die Stukkaturen an der Decke und auf den Emporen von Andreas Moosbrugger (1722-1787). Im Sommer 1782 war der Bau abgeschlossen und am 27. Oktober wurde die Kirche feierlich eingeweiht.

3. Architektonische Beschreibung
Aussen
Die Kirche hebt sich mit ihrem kräftigen Turm von den umliegenden Bauten ab. Der Kirchturm weist kielbogige Wimperge im Uhrengeschoss auf, die mit ihrem traditionellen Motiv an Formen des Fraumünster (1732) und von Wädenswil (vgl. hier Innenansicht) (1764) anschliessen. Er gipfelt in einem schlanken, hochgezogenen Helm als starkem, vertikalen Akzent. Über dem Torbogen des Türportals hängt das Gemeindewappen, ein Schwan, und ein feines Rokokogitter verschliesst den Eingang. Drei weitere Eingänge, symmetrisch angeordnet und jeder mit einer freitragenden Zwiebelhaube überfangen, geben Einlass ins Innere. Jede dieser Türen wird von einem fein abgestimmten Sandsteinportal mit schräg gestellten Pilastern umrahmt.

Innen
Betritt man das Innere, entpuppt sich der Längsbau als Quersaal. Der Grundriss der Kirche wurde aus einem Quadrat entwickelt, das 17 Meter Seitenlänge hat. An der Nord- und Südseite wird es durch flache segmentbögige Flächen ergänzt, die sich aus den Kreisen der Ovalkonstruktion mit Radius=Quadratseite bilden (vgl. Schnittpunkte für Kreisbildung im Grundriss von Gubler). Die zwei anderen Quadratseiten werden mit einem Halbkreis (Radius=Hälfte der Seite) abgerundet. Es ergibt sich "eine leicht bewegte Ovalform, ein weich ondulierter Zentralraum, der zudem durch die alles überspannende Flachdecke zu einem Einheitsraum zusammengebunden wird". In der Vertikalen ist der Raum durch schmale und relativ dünne Wandpilaster gegliedert. Pilaster und Konsolen tragen eine mässig ansteigende Hohlkehle als Überleitung zur Flachdecke. Die freitragenden Emporen geben dem Raum eine Richtung, indem sie hufeisenförmig auf die Kanzel hingeordnet den Taufstein umfassen. Sie schneiden ein Quadrat aus dem leicht bewegten Ovalraum aus, das jedoch nicht flächendecken mit dem des Grundmusters ist. Symmetrisch angelegte Treppenläufe geben auf den Schmalseiten Zugang zu den Emporen. Prächtigstes Schmuckstück der Inneneinrichtung sind die Stukkaturen Moosbruggers, welche die Raumform an der Decke nachzeichnen. Von einem Mittelstück wachsen die Stuck-Blumen nach aussen, den Fenstern zu. Hauptkompositionselement ist dabei die Kartusche, so wie sie über den Rundbogenfenstern, in den Einzügen des äussersten Stuckrahmens an der Decke oder auch unter den Emporen erscheint. Gubler zufolge verleihen die Stichkappenverzierungen dem Stuck "jene Beweglichkeit und Eleganz, die immer wieder von Neuem verzaubert". Weiter meint er das meisterliche Handwerk des Künstlers v.a. am Milieumotiv über dem Taufstein zu erkennen, "wo Kartusche und Blumenbukett sich durchdringen und zu den überzeugendsten Formulierungen führen".

4. Ausstattung
Einzig überblieben aus dem 18. Jahrhundert ist der einfache Taufstein des Thalwiler Steinmetz' Johannes Staub, der mit seinen Initialen H (wie Hannes) und S signiert. Die wichtigsten Ausstattungselemente sind Geschenke der Familie Stapfer. Formal bilden sie eine Einheit. Es sind dies die grossformatigen Fresken Antonio Barzaghis an der Nordwand und die Kanzel. Links der Kanzel mit der Darstellung des Alten Bundes, eine Szene aus dem Alten Testament: Moses übergibt dem Volke Israel die Gesetzestafeln am Sinai. Auf der gegenüberliegenden Seite ist die Bergpredigt dargestellt, als das zentrale Ereignis des Neuen Testaments (=des Neuen Bundes). Die Kanzel wie die Bildrahmen sind von Joseph Regl geschnitzt, seiner Zeit am Gewerbemuseum Zürich tätig. Drei Figuren sind auf der Kanzel zu identifizieren: Zwingli, Calvin und Oekolampad, alle drei grosse Reformatoren in der Schweiz. Das Kanzelbrett wird von einem Adler getragen, der Luthers Bannbulle in den umkrallt, darauf hinweisend, dass ohne den deutschen Reformator die Erneuerung der Kirche nicht möglich gewesen wäre. Vor der Kanzeltreppe steht der Zürcher Löwe, der die enge Verbindung von Staat und Kirche symbolisiert. Am Helm entdeckt man die Wappen des Stifters Julius Stapfer und der Gemeinde.

5. Interpretation
Gubler zufolge ist das alles durchflutende Licht im Innenraum ein Zeichen der Reformation: "Die grossen Fensteröffnungen lassen das Licht ungehindert in den Raum fliessen und tauchen ihn in nirgends verschattende Helligkeit, die geradezu als Symbol der liturgisch-reformerischen Aufklärung verstanden wurde". Die Hinordnung auf Taufstein und Kanzel durch die einschneidenden Emporen, deutet er als optische Hervorhebung der zentralen Orte der reformierten Liturgie. Die von allen vier Seiten in die Mitte, zum Taufstein, führenden Gänge weisen auf die zentrale Bedeutung der Taufe im christlichen Glauben. In seiner Achse liegt die Kanzel, die Ort des Hauptgeschehens des reformierten Gottesdiensts bildet. Die direkte räumliche Verbindung beider liturgischen Elemente ist Sinnbild dafür, dass die Wege zu Gottes Wort nur über die Mitgliedschaft in der Kirche führen. Der Horgner Kirche schreibt Gubler innerhalb des reformierten Kirchenbaus der Schweiz einen hohen Stellenwert zu. So wird sie als Vorbild für den Ovalraum in Embrach (1779) von dem in Rom geschulten David Vogel betrachtet. Der Ovalraum und der Rechteckbreitsaal sind nicht Erfindungen des 18. Jahrhunderts. Jedoch ist die spezielle Ausformung des Querovals in Horgen singulär, v.a. die schwache Ausbiegung des Mittelteils. Diese ist sicherlich im Zusammenhang mit dem süddeutschen katholischen Kirchenbau zu sehen: "einzig hier finden wir die vergleichbaren schmiegsamen Grundrissformen". Horgen ist ein typischer Spätling. Die Kirche ist einerseits von der nüchternen Liturgie des Aufklärungszeitalters geprägt, wie auch vom trunkenen Linienfluss des Rokoko.


Bibliographie
Gubler, Hans Martin, «Reformierte Kirche Horgen» (Schweizerische Kunstführer GSK, 31/303) Bern 1981.


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