Die Hauptstadt im Barock



Christopher Wren, Stadtplan von London, um 1660 aus ARTstor



Louis Levau, Hotel particulier Lambert (palais), Paris, 1641 "Hotel Particulier Lambert" bei prometheus




Paris, Quartier Richelieu. Nach einem Plan von Turgot, 1739 Plan Turgot bei prometheus


















Petersplatz in Rom. Stich nach Endner, 1774 - 1824Virtuelles Kupferstichkabinett





























| Rückansicht von S. Peter,
in: Alois Riegl, «Werden des Barockstiles», in: ders., Die Entstehung der Barockkunst in Rom, Wien: Schroll, 1908.















Santa Susanna von Carlo Maderno, 1597-1603 aus ARTstor










































































1. Der Staat und die Haupstadt
2. Rom als Vorbild einer repräsentativen Hauptstadt
3. Rhetorik und Architektur
4. Die Funktion der Fassade

1. Der Staat und die Haupstadt
1 Nach Giulio Carlo Argan ging die Struktur der Hauptstadt aus den neuen politischen Funktionen des Staates im 17. Jahrhundert hervor und trug zur Definition des besonderen Raumgefühls bei. In der neuen Hauptstadt hatte der moderne Mensch kein schützendes und vertrautes Heim mehr, sondern wurde Teil eines Beziehungsnetzes und eines sozialen Raumes. Die Hauptstadt ist eine typisch barocke Erfindung und ist die monumentale Repräsentation dessen, was Lewis Mumford „die Ideologie der Macht“ nannte. Ein wichtiges Beispiel für eine Stadt als Ausdruck der „Ideologie der Macht“ ist Paris, die zu der Zeit die Hauptstadt der stärksten Monarchie Europas war. Sie war der Mittelpunkt eines Staates, dessen König trotz seines Gottesgnadentums eine realistische Eroberungspolitik verfolgte. Christopher Wren, der Schöpfer der Pläne für den Wiederaufbau Londons erklärte in der zweiten Hälfte des 17. Jh., dass „Paris eine Schule für Architektur sei, wohl die beste in Europa“.
Das Bürgerliche „Hôtel particulier“, das den prunkvollen Patrizierpalast ersetzte, wurde zum verbindenden Element der Stadt, indem es durch seine nüchterne Fassade die Monumentalarchitektur besser zur Geltung bringt. Die grossen Bauten bewogen nun den Passanten zum Stehenbleiben, während die bürgerlichen Wohnbauten eine gehobene aber zurückhaltende Umwelt schufen. Das Bürgerhaus, so Argan, das sich in ganz Europa ausbreitete, bildete die Schnittstelle von privatem Raum zum öffentlichen Leben, der Strasse. Diese Herausbildung von bescheidenen, gelegentlich auch eintönigen Strassen führte zu einer Auflösung der Viertel für Arme und Reiche. Diese strenge Architektur bekam ihren Eigenwert durch das Reihenmässige und wurde die Ausdrucksform des aufstrebenden Bürgertums und ebenso repräsentativ wie die Monumentalarchitektur. Sie verkörperte Werte wie Wohlhabenheit, Achtbarkeit und bürgerliche Eleganz und war so die Grundlage für eine bürgerlichen Rhetorik, neben der staatlichen und kirchlichen.

Die Schaffung der Hauptstadt ist eine direkte Auswirkung der Zentralisation der Macht. Nach dem 16. Jahrhundert entwickelten sich die Höfe in den Städten, parallel zur Bevölkerungszahl, zum Unternehmungswille und Reichtum, zu Hauptquellen der wirtschaftlichen Macht. Grundsätzlich waren alle barocken Hauptstädte gekennzeichnet durch Gesetz, Ordnung und Uniformität. Das Gesetzt war dazu da, den Status zu bestätigen und die Lage der privilegierten Klassen zu sichern. Die Ordnung wird als mechanisch bezeichnet und basierte hauptsächlich auf der Unterwerfung unter den regierenden Herrscher. Die Uniformität kam bald in der ausgeklügelten Bürokratie zur Eintreibung der Steuern zum Ausdruck. Zum Mittel um dieses Lebenssystem durchzusetzen wurde das Heer, wobei die ausführende Instanz die merkantile, kapitalistische Polizei war. Die neue Kriegsführung veränderte die Befestigung der Stadt, drängte die Gärten der Bewohner weit hinaus und hatte eine dichtere Bebauung der Stadt als Folge. (siehe auch Militärarchitektur und radialer Stadtplan?)
Der Zustrom in die Stadt ist zum einen zu begründen durch die Angst der Bauern vor einer Katastrophe sowie durch die neue Grundstückspolitik und sogar die Vertreibung von ihrem Land. Die Grösse einer Stadt war nun nicht mehr an ihrer flächenmässigen Grösse oder ihrer Stadtmauer zu erkennen sondern an der Zahl ihrer Bewohner und ihrer Macht. Zudem nahmen durch die Stärkung der Armee die Kasernen und Waffenplätze im barocken Staat eine wichtige Rolle ein. Wachablösung, Exerzieren und Paraden wurden beliebte Schauspiele für die Massen. So war die Schaffung von triumphalen Strassen zur Huldigung der Macht unvermeidlich Teil der neuen barocken Hauptstädten, besonders in Paris und Berlin. Als Gegenstück zur militärischen Parade stand der Markt. Der Markt unter freiem Himmel verschwand allmählich und der ständige Markt mit eigens dafür gebauten Gebäude wurde zum Gütezeichen einer Stadt seit dem 17. Jahrhundert. Der Grundriss der neuen Stadt unterschied sich von der alten durch Geradlinigkeit, regelmässige Häusergruppen und möglichst einheitliche Dimensionen. Der rond-point stellte die neue Anordnung dar, von welchem die Strassen sternförmig ausgingen. Der wichtigste, der eigentlich repräsentative Teil der Stadt war der Korso, also eine breite repräsentative Hauptstrasse. Er demonstrierte par excellence den Fokus der Barockstadt auf den öffentlichen Raum als sozialen, repräsentativen und wirtschaftlichen Ort.

2. Rom als Vorbild einer repräsentativen Hauptstadt
Rom war historisch gesehen die erste europäische Stadt, welcher man die Struktur einer Hauptstadt zu geben versuchte. Eine Erneuerung des Stadtbildes wurde Ende des 16. Jahrhunderts unter Papst Sixtus V. mit Domenico Fontana als planenden Architekten umgesetzt. Der Papst erkannte, dass Europa im Begriff war, zu einem Gebilde von Nationalstaaten zu werden. Die geistige übernationale Macht musste somit auf einem weltlichen Staat basieren. Als Ziel von Pilgern aus allen katholischen Ländern hatte Rom als Mittelpunkt der christlichen Welt eine ebenso grosse politische, wie auch religiöse Bedeutung. Die von Sixtus V. und Domenico Fontana geplante Forma Urbis diente hier als rhetorische, überredende Architektur. Die neuen Strassen dieses Planes verbinden die alten Basiliken und dienen somit der Devotion, nach Argan. Die Devotion als das Beherrschende der heiligen Stadt Rom. Als Ziel von Besuchern aus aller Welt sollte sich Rom durch grossartige Bauten aufdrängen; gleichzeitig musste das Strassenbild den grossen Zufahrts¬wegen von aussen angepasst werden. Die Kirche hatte das Ziel, Rom zum Kernpunkt des politischen Gleichgewichts in Europa zu machen, welches nur teilweise verwirklicht wurde. Der Umbau der Stadt, war mit dem Tode Sixtus V. und dem Weggang Fontanas so gut wie zu Ende. Das Beispiel der idealen Hauptstadt als sichtbarer Ausdruck einer überweltlichen Autorität war von jetzt an gegeben und wurde von den europäischen Hauptstädten nachgeahmt, so Argan. Rom diente so als Vorbild für mindestens zwei neue architektonische „Typen“: die Strasse und der Platz. Die lange, von Fontana entworfene Via della Quattro Fontane und der Petersplatz von Bernini dienen hier als Paradebeispiele.

3. Rhetorik und Architektur
2 Argan verbindet die Barockarchitektur des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff der "Rhetorik": Die Bauelemente erhalten zunehmends symbolischen und allegorischen Charakter mit mitteilendem Wert, wogegen sie früher Teile eines funktionalen Kräftesystem waren.
Die Säule beispielsweise, die statisch betrachtet eine Stütze ist und deren Gestalt und Ausprägung von den zu tragenden Hauptgewichten bestimmt ist, wird während der Reformationszeit für die Kirche zu einem Symbol der Unerschütterlichkeit des Glaubens.
Ebenso verliert die Kuppel ihre Funktion als Abschluss eines Systems von Massen im Gleichgewicht, die Bramante für St. Peter festgelegt hatte. (Vgl. Bramante und Neu-St. Peter Sankt Peter: vom Entwurf zur Realisation) Argan jedoch kritisiert Michelangelos Vorgehen, bei dem er versuchte die Kuppel mit der Dynamik der ganzen Masse zu verbinden. ( Vgl. Veränderungen der Entwürfe von Bramante Sankt Peter: vom Entwurf zur Realisation) Denn dadurch hätte er sie ihrer zentralen Funktion als Anspielung auf die Himmelskuppel beraubt. Die Kuppel hätte deutlich die Aufgabe der Tiefe des Schiffs Höhe zu geben und es dadurch zu kompensieren. Als weiteres Beispiel der Kuppel mit vertikaler Komponente nennt er die Sant` Agnese von Borromini (Vgl. Sant' Agnese auf der Piazza Navona).
Durch die Beziehung zwischen Friesen, Gesimsen und entfernten Baugliedern liesse sich zudem eine imaginäre Räumlichkeit erschliessen, führt Argan weiter aus. Er nennt es die "wirkliche Architektur", deren Struktur nicht die eines tektonischen, sondern eines visuell gedachten Raumes ist. Das Interesse für die Struktur des Sichtbaren beurteilt er als stärker wie das für die Struktur der Sache. In der "wirklichen Architektur" würden die optischen und psychologischen Illusionen als Bestandteile des Gebäudes einen absoluten Wirklichkeitswert gewinnen. Dass die Dimension des Raumes wichtiger wird als die Proportion, sei daran zu erkennen, dass man mehr mit Kontrasten spielt als dass ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Horizontalen und Vertikalen gesucht würde. Die Zufälligkeit des Lichts und seine Wirkungen zu unterschiedlich Tageszeiten wird genützt, indem die Grundflächen frei behandelt werden.
Der Raum ist in Beziehung zur Natur und Umwelt gesetzt, wodurch sich die Unterscheidung Innen und Aussen aufhebt. Der architektonische Raum hat immer die Tendenz, den realen Raum zu begrenzen und einen imaginären entstehen zu lassen. In Pietro de Cortonas` Kirche SS. Luca e Martina erhält die, durch Vorsprünge oder Vertiefungen, versehene Wand als "bewegte" Wand die Ähnlichkeit einer Bühnenkulisse: Denn diese zeigt gleichzeitig den Raum vor der Wand wie auch den dahinter liegenden. Durch das Spiel unterschiedlicher perspektivischer Verkürzung der Wand, entsteht nicht nur eine einzelne optische Achse. Damit benötigt die Wand einen Betrachter, der sich innerhalb der Architektur bewegt und vor dessen Augen sie sich "entrollt".
Ein weiteres kommunikatives Element von Innen und Aussen liefert die Fassade: Sie ist weder mehr Teil eines Ganzen, noch Abschluss eines baulichen Blocks. Eher würde sie zur Strasse gehören als zum Bau, für den sie bestimmt ist, ergänzt Argan. Dabei unterscheidet sich die Fassade der Kirche von der der weltlichen Architektur, in dem sie im Allgemeinen durch zwei Kräfte wirken wolle: Eine zur Strasse nach aussen und eine zum Innenraum hinein - sie fordert den Vorbeigehenden auf, einzutreten. Die Fassade der S. Susanna von Maderno scheint diesem Charakteristikum zu entsprechen: Sie ist ein dekorativer Aufbau rund um das Grundthema des Baues - die Tür. Die Säulen treten in die Fläche zurück und schaffen so den Eindruck eines Portikus und einer Vorhalle. Der leere Raum der Tür wird durch das kurvige Giebelfeld, und die dreieckige, erdachte Vorhalle betont, oben vom grossen Fenster wieder aufgenommen und wiederholt sich nochmal im abschliessenden Giebel.

4. Die Funktion der Fassade
Dieser neue Fokus auf den Städtebau oder die Gestaltung des öffentlichen Raumes führte unter anderem zu einer Verschiebung der Funktion der Fassade. Sie ist nicht mehr nur die Frontseite eines Gebäudes sondern vielmehr die Begrenzung eines offenen Raumes. Das Problem der Fassade ist ohne Zweifel das interessanteste an der barocken "Monumentalitat". Die Fassade gehört der Aussenwelt an, der Strasse oder dem Platz; sie ist für das Publikum gemacht und will gesehen werden. Was sie aber zeigen oder repräsentieren soIl, ist der Gehalt des Gebäudes, zu dem sie gehört
Die Fassade ist im Allgemeinen ein grossräumiger, gegliederter und elastischer Organismus. Die nach innen und aussen wirkenden Kräfte gleichen sich aus. Das Stadtbild ist nicht nur von Strassen und Plätzen bestimmt, sondern auch von Höfen, dem Saal eines Palastes oder dem Innenraum einer Kirche. Auch dies sind gesellschaftliche Räume. Die Fassade ist somit kein Abschluss, sondern eine verbindende Wand zwischen zwei räumlichen, durch Mass und Lichtintensität verschiedene, Gegebenheiten, die aber den selben städtebaulichen, wie funktionellen Charakter haben, so Argan.
Diese Absicht nach innen und nach aussen zu wirken wird nach Argan auf zwei oft unter sich verbundene Arten sichtbar: erstens durch die Abwechslung hervorspringender Bauglieder (Säulen, Pseudopilaster, Gesimse und Giebel) mit Nischen und Vertiefungen, und zweitens durch biegsame, ein- oder ausgebuchtete Mauerflächen. Die Fassade ist und bleibt aber eine Fläche und so dienen die hervor- und zurücktretenden Bauglieder lediglich als Hinweise und nicht zur plastischen Entwicklung des Raumes.
In Santa Maria Della Pace geht Pietro da Cortona so weit, die Einheit der Fassade in eine Gesamtheit von unterschiedlich gebogenen Flächen von verschiedener Tiefe aufzulösen und sie mit den anliegenden Gebäuden und Strassen zu verbinden, zu denen man durch Eingänge in der Fassade selbst' gelangt, ähnlich wie in den perspektivischen Gängen der Bühne des Teatro Olimpico von Palladio.
Der gleiche gebogene Vorraum, der an eine Idee Bramantes denken lässt, ist in Verbindung mit den perspektivischen Achsen der Strassen, die zur Kirche führen. Auch die Beziehung zwischen der Fassade und dem Inneren der Kirche ist grundlegend: wenn nämlich die Fassade, wie immer in der Barockarchitektur, nichts anderes ist als die Entwicklung des Themas des Portals, des Zugangs zur Kirche und die Gläubigen einladen soIl, einzutreten, so darf man nicht vergessen, dass die Achse des Eingangs direkt zum Hochaltar führt und dass dieser die Aussicht, die man vom Eingang her hat, abschliesst."
Borromini ging so weit, Fassaden zu entwerfen, deren Achse von der der Kirche abweicht und ohne Beziehung zu ihrem Inneren ist. Im Strassenbilde allerdings tritt die Fassade der Kirche aus denen der nahen anderen Bauten hervor und fordert den Vorübergehenden auf, einzutreten. Schon deshalb ist sie als baulicher und räumlicher Akzent betonter als die Fassaden der weltlichen Architektur und will im allgemeinen durch zwei Kräfte wirken: eine nach aussen zur Strasse und eine nach dem Innenraum.“
Das Stadtbild wird wesentlich von der Fassade beeinflusst. Die gegliederte Masse eines Monumentalbaus wird durch die Fassade zu einem Knotenpunkt, einem kräfteaustrahlenden Kern im Stadtbilde, so Argan

Argan schliesst mit den Worten, dass die Neuheit der Idee dieses Begriffs „Rhetorik“ darin besteht, dass der Raum nicht die Architektur einschliesse, sondern sich in ihren Formen verwirkliche. Dadurch, dass die Formen komplexer werden, entwickelt sich auch das naturalistische Motiv zunehmends und herrscht im Dekorativen vor. Die Natur wird ein Bestandteil des städtischen Raumes durch die Auflösung der traditionellen Planimetrie. Damit meint er die immer freieren Bewegungen der Massen, durch die Kurven der Bauglieder und die Verbindung des Gebäudes mit der Umwelt, Park oder Garten, durch Rampen, Terrassen, Exedren (nischenartige Räume), vorspringende oder zurücktretende Baukörper. Die Architektur sei wie eine zweite Natur, die sich mit der ersten verbindet und sie durch die menschliche Einbildungskraft erweitert.
Argan ist der Ansicht, dass die Architektur als „erbauliche Kunst“ die Aufgabe hat, die Seele vorzubereiten, in einem Raum ohne irdische Grenzen zu leben. Sie sei ein Weg, die Seele zu erheben. Verglichen mit den verschiedenen Produktionsschritten3 und Wirkungsweisen4 einer Rede in der Rhetoriklehre ist die Architektur zugleich dispositio (Gliederung des Vortrags) und elocutio (Einkleidung der Gedanken durch Redeschmuck wie rhetorische Stilmittel) und soll sich sowohl im delectare (erfreuen) und docere (belehren) vollenden.




Anmerkungen
1 Die Ausführungen basieren auf: Argan, Giulio Carlo: Der Staat und die Hauptstadt, in: Das Europa der Hauptstädte. S. 34-43.
2 Auch nachfolgende Bemerkungen sind diesem Text entnommen: Argan, Giulio Carlo: Rhetorik und Architektur, in: Das Europa der Hauptstädte. S. 104-110.
3 S. dazu auch: Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg: Rhetorik-homepage.de. Bern 1996-2008: Produktionsstufen der Rede
4 Vgl. dazu auch die Wirkungsweisen der Rede bei: Barbara Kursawe: docere, delectare, movere: Die officia oratoris bei Augustinus in Rhetorik und Gnadenlehre. Paderborn: Schöningh 2000.


Bibliographie
Argan, Giulio Carlo, Das Europa der Hauptstädte, 1600–1700, Genève: Skira, 1964.
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