Grundriss Haus des Pansa, Pompeij
William Clark, Pompeji, Bd. 2, Fig 51.,
Baumgärtner: Leipzig 1834



| Grundriss Palazzo de Scala, Florenz
Architecture Toscane, Vol. 1, Plate 48,
Grandjean de Montigny, Famin, Van Pelt,
Pencil Points: New York 1923



| Grundriss EG, Mantegnahaus, Mantua
Raffaelo Niccoli, 1941



| Grundriss Palazzo Farnese, Rom
Pompeji, Bd. 2, Fig. 51,
William Clark, Leipzig: Baumgärtner 1834



| Grundriss Villa Cornaro, Castel Franco
Le fabbriche e i disegni di
Andrea Palladio e Le terme, Vol. 3
,
Bertotti Scamozzi, 1843






















Das Atrium in der Renaissance


Die römische Antike galt den Architekten der Renaissance als Vorbild. Als Inspiration für das Wohnhaus der Oberschicht bot sich das idealtypische, römische Wohnhaus. Jedoch erst die archäologischen Grabungen des 17. und 18 Jh. in Pompeji und Herculaneum ergaben ein nachweisbares, klares Verständnis vom Aufbau des römischen Wohnhauses.
Vitruv betont zwar in De Architectura Libri Decem, Buch VI, Kapitel 1 und 3 die Bedeutung des Atriums in den Häusern der Oberschicht und beschreibt dessen Lage, Form und Funktion. Die literarische Qualität des Textes sowie das Fehlen von Abbildungen erschwerte jedoch das Verständnis. So mussten philologische und archäologische Vergleichsuntersuchungen zur Rekonstruktion des Atriums herangezogen werden. Diese Forschungen, die Humanisten und Architekten parallel verfolgten, lieferten unterschiedliche Interpretationen, die sowohl in die Architekturtraktate als auch in die Bauten jener Zeit einflossen.

1. Atrium als Problem der Überlieferung
2. Atrium als offener, rechteckiger Innenhof
3. Atrium als Rundhof
4. Atrium als dreischiffige Eingangshalle
5. Atrium als viersäuliger, zentraler Saal
6. Atrium als eigenständige Form der Renaissance

1. Atrium als Problem der Überlieferung

Das Atrium ist wesentliches Merkmal des antiken römischen Hauses, das sich entlang der Achse Vestibulum (V) - Atrium – Tablinum – Peristyl (P) erstreckt.1 Vitruv beschreibt das Atrium in Buch VI, Kapitel 3 seines Traktates De Architectura Libri Decem (Cesare Cesariano, Vitruv-Ausgabe von 1521). Jedoch verwendet er auch den Begriff Cava Aedium in Zusammenhang mit den fünf verschiedenen Arten des Atriums, desweiteren die Begriffe Impluvium und Compluvium als dessen konstituierende Elemente. Die Verständlichkeit des nicht illustriert und zudem durch die Jahrhunderte lange Überlieferung nicht original auf die Renaissance gekommenen Textes wurde auf diese Weise beeinträchtigt durch Begriffe – so auch Atrium –, die zu jener Zeit entweder nicht mehr geläufig waren oder unterschiedliche Bedeutungen erhalten hatten.2

Nicht nur Humanisten erarbeiteten mit Hilfe von vergleichenden Textanalysen und unter Zuhilfenahme weiterer antiker Quellentexte3 Interpretationen zum Begriff des Atriums. Naturgemäss war auch für Architekten das Verständnis Vitruvs eine Voraussetzung zur Generierung einer modernen Architektur auf Basis römisch-antiker Vorbilder. Ihre Forschungen und in Abbildungen festgehaltenen Interpretationen zu seiner Lage, Form und Funktion widerspiegeln nicht nur die Vitruvausgaben und Traktate jener Zeit, sondern auch Entwürfe und Bauten. So beschrieb Leon Battista Alberti in De Re Aedificatoria (1452 abgeschlossen) zwar das Atrium, doch lieferte er keine Abbildungen hierzu. Eine erste umfangreich illustrierte Ausgabe des Vitruv gab erst 1511 Fra Giocondo heraus, welche über Abbildungen zum Atrium verfügt.

2. Atrium als offener, rechteckiger Innenhof

In De Re Aedificatoria, Buch V, Kap. 17 macht Leon Battista Alberti Angaben zur Funktion, Lage und Varianten des Atriums. So kann dieser zentrale Raum sowohl überdacht als auch nach oben offen oder teilweise überdacht und zu einer, mehreren oder allen Seiten von einer Säulenhalle umgeben sein. Die in der italienischen Ausgabe von 1550 eingesetzte Präzisierung: „Cortile con le loggie“ widerspiegelt denn auch diese Angaben Albertis. Ebenfalls setzt Alberti die vitruvianische Bezeichnung Cava Aedium mit Atrium gleich und führt als neuen, das Atrium bezeichnenden Begriff Sinus ein. In Buch IX, Kap. 3 geht er auch auf seine Proportionen ein. Hingegen erläutert er nicht näher die Begriffe Compluvium und Impluvium.
Als bauliche Umsetzung dieser letzgenannten Variante kann der Palazzo della Scala (Palazzo della Gherardesca, 1472 – 80) des Giuliano da Sangallo gelten, der als offener und von Arkaden umstandener Innenhof gestaltet ist.4

3. Atrium als Rundhof

Als Atrium des Palazzetto des Mantegna in Mantua (ca. 1476 bis 1496, ggf. Entwürfe durch Mantegna selbst) kann der Rundhof des Gebäudes aufgefasst werden, der das Haus erschliesst und die angrenzenden Räume zusätzlich mit Licht versorgt.5 Die Literatur lässt offen, ob dieser Rundhof urspünglich überdacht werden sollte.6

Das in seiner Form nicht auf Vitruv zurückgehende runde Atrium findet sich in den Traktaten des 15. Jh. Zum einen kann wiederum Albertis De Re Aedificatoria herangezogen werden, das wiederum in Buch IX, Kap. 3 auch eine runde Grundfläche erwähnt. Vor allem ist das Traktat Architettura Civile e Militare von Francesco di Giorgio Martini zu beachten. Dessen zweite Auflage, die jedoch erst 1492 erschien, fügt den rechteckigen Grundformen des atriums, eine Forma Rotonda hinzu, die in den Illustrationen rund oder polygonal dargestellt sind. Im Gegensatz zu Alberti trennt er jedoch Atrium und Cava Aedium. Ersteres visualisiert er als Innenraum, der als Versammlungssaal (Ridotto) dient, und über eine Dachöffnung oder ein Oberlicht (Lumi Superficiali) verfügt. Das Cavum Aedium versteht Martini als Teil des Innenhofs, d.h. des Peristyls, in dem er folglich die architektonischen Elemente des Atriums verortet.
Martini kann als Beispiel gesehen werden, wie bei der Konzeption eines an der Antike orientierten Palazzo formale Neuerungen eingeführt wurden, für die Vitruvs Traktat lediglich als Inspiration verstanden wurde.

4. Atrium als dreischiffige Eingangshalle

Der Palazzo Farnese in Rom wurde gegen 1516 von Antonio da Sangallo dem Jüngere entworfen. Obschon der Grundriss nicht sämtliche Räume bezeichnet, sieht die Literatur7 weitgehend übereinstimmend das Atrium in der dreischiffige Halle realisiert, welche die Strasse mit dem Innenhof verbindet.

Als Quelle dieser Architektur kann die 1511 durch Fra Giocondo veröffentlichte, illustrierte Edition von Vitruvs Text gelten. Während das dort beschriebene einfache römische Haus dem Aufbau Vitruvs folgt, wird das Atrium des grossen römischen Hauses als dreischiffige Eingangshalle dargestellt. Grundlage seiner Interpretation ist die geänderte Verwendung des Wortes Ala. Während es bei Vitruv die Seitenräume des Atriums meint, wird im mittlelalterlichen Latein hierunter das kirchliche Seitenschiff verstanden. Beiden Plänen gemein ist, das sie Atrium und Cava Aedium voneinander trennen. Mit letzterem bezeichnete Fra Giocondo den offenen Teil des Innenhofes, während er den Begriff des Peristyls für dessen überdachten Umgang nutzt. Die bei Vitruv aufgezeigten Formen des Cava Aediums verortet Fra Giocondo so in den Innenhof und führt das Compluvium als dessen architektonischen Element an. Die Zeichnung des kleinen römischen Hauses weist das Impluvium als den offenen Teil des Atriums aus.

5. Atrium als viersäuliger, zentraler Saal

Die Villa Cornaro wurde um 1553 realisiert und beruht auf einem Entwurf des Architekten Andrea Palladio, der den Bau in seinem, 1570 erschienen, Architekturtraktat I Quattro Libri dell'Architettura, Buch II, Kap 14. kurz beschrieb. Die Seitenräume werden als Ale bezeichnet, was belegt, dass er den viersäuligen, zentralen Saal als Atrium verstand.

Dies steht teilweise in Gegensatz zu seinen Ausführungen über die Formen des atriums im gleichen Werk Buch II, Kap. 4 - 7. Dort beschreibt und illustriert er das toskanische, das viersäulige, das korinthische und das überdachte Atrium, wobei die ersten drei Formen teilweise nach oben geöffnet sind. Die Darstellung dieser Formen folgt weitgehend der 1567 erschienen, von Daniele Barbaro kommentierten Vitruvausgabe I Dieci Libri dell'Architettura di M. Vitruvio. In Buch VI, Kap. 3, für die Beschreibung des Cava Aedium illustriert Andrea Palladio die gleichen Formen. Im Verständnis von Daniele Barbaro standen die Begriffe Atrium und Cava Aedium für den gleichen Raum, wobei ersteres den überdachten Teil bezeichnete, während letzteres den offenen Teil meinte.

6. Atrium als eigenständige Form der Renaissance

Die obigen Beispiele illustrieren, dass Architekturtheoretiker der Renaissance die Texte Vitruv unterschiedlich interpretierten. Zudem zeigt das Beispiel der Villa Cornaro, das die realiserten Bauwerke sich an den Traktaten orientierten, jedoch diesen nicht zwingend folgten. Beides resultiert in einer Architektur die versuchte die Antike als Vorbild zu nehmen dabei aber eine eigene Sprache entwickelte, die jener der Antike nicht nachstand.


Anmerkungen

1. Die Funde in Pompeij belegen, dass selbst an einem Ort, zu einem Zeitpunkt verschiedenste Formen des Wohnhauses gebaut wurden. Das von Vitruv beschriebene Atrium-Haus ist nur ein Beispiel und nicht eine allumfassende Referenz, wie in der Renaissance verstanden.
Tränkle, S. 120-121 führt darüber hinaus an, dass bereits in der Antike der Begriff Atrium nicht eindeutig belegt war.
2. Maurus Servius gibt in seinen Kommentaren zu Vergil aus dem 4. Jh. verschiedene Definitionen des Begriffs Atrium, unter anderen bezeichnete er so grosse Gebäude in ihrer Gesamtheit (s. Pellecchia, S. 380). In der sakralen Architektur wurde mit Atrium der Vorhof der frühchristlichen Basilika bezeicnet, auch paradiso genannt (s. Pellecchia, S. 382).
3. beispielsweise Plinius d. Ä., Vergil, Varro, Festus, Gellius, Maurus Servius (s. Pellecchia, S. 382 - 383) und Isiodor von Sevilla (s. Pellecchia, S. 394).
4. Pellecchia, S. 389.
5. Clark, S. 267, sie bezeichnet den Hof als Cava Aedium, setzt den Begriff jedoch nicht mit Atrium gleich (Clark, S. 111).
6. Harder, S. 47.
7. Clark, S. 270.



Bibliographie
Clark, Georgia, «Roman House - Renaissance Palaces, inventing antiquity in fifteenth-century Italy», Cambridge 2003.
Harder, Marion, «Entstehung von Rundhof und Rundsaal im Palastbau der Renaissance in Italien» - Hochschulsammlung Philosophie Kunstgeschichte Band 7, Freiburg 1991.
Niccoli, Raffaello, «Casa del Mantegna. Rinvenimento di decora¬zioni vari ad affresco di soffitti e di altri elementi della struttura originale della casa», in: Le Arti, III (1941), S. 390 392.
Pagliarna, Pier Nicola, «Vitruvio da testo a canone», in: Salvatore Settis (Hg.), Memoria dell’antico nell’arte italiane (Bd. 3: Dalla tradizione all’ archeaologia), Torino: Giulio Einaudi editore, 1986, S. 7 – 85.
Pellecchia, Linda, «Architects Read Vitruvius: Renaissance Interpretations oft the Atrium of the Ancient House», in: Journal of the Society of Architectural Historians, 51 (4), Dec. 1992, S. 377–416.
Tränkle, Hermann, «Exegetische Quisquilien zu Catulls 64. Gedicht», in: Museum Helveticum, 54, 1997, S. 115–124.

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