- Der Laptopdeckel
- Über Jan
- Nostalgie oder Erinnerung?
- Extrovertierte Repräsentation
- Verdeckte Hegemonie
- Heimat
- Freundschaft wird grossgeschrieben
- Wenn der Beruf politisch wird
- Ironie und Kodierung
- Meine Beziehung zum Informanten
- Abschliessend, -Wenn der Mensch mit dem Objekt in Zusammenhang gebracht wird-
- These & Schlussfolgerung
„Ich han viel schöni Chläber, müäss aber de richtig Moment sii, dass er au uf de Computer chunnt»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Der Laptopdeckel:
Die Betrachter:in hat es hier mit einem Apple Laptop zu tun, welcher mit sieben Aufklebern geschmückt ist. Die Aufkleber sind ohne übergreifenden Plan platziert, wodurch eine organisch entstandene Ordnung herrscht. Die Aufkleber decken ein breites thematisches Spektrum ab. Zu sehen sind Bandsticker, selbst entworfene Aufkleber, jene die dem Tourismus zugeordnet werden können und Sticker die auf politische Bewegungen hinweisen. Was sich durch diese Aufkleber über Jan, seinen Charakter und sein soziales Umfeld ablesen lässt, wird im Folgenden ausgeführt.
Über Jan
Jan (30) ist Pflegefachkraft am Spital Männedorf. Er verbringt dadurch viel Zeit mit Menschen und erlebt die Höhen und Tiefen des Menschseins, ist sowohl beim Lebensanfang als auch beim Lebensende dabei. Geburt und Sterben sind Teil desselben Zyklus. Als ausserordentlich gelassener und gutmütiger Mensch steht er den Patient:innen bei und scheint durch das sich vor ihm entfaltende Lebensdrama nicht sonderlich betroffen. Die Sticker, welche seinen Laptopdeckel schmücken, sind aufgrund ihrer Ästhetik, ihres Erinnerungswerts, als Freundschaftsbeweis und der Nostalgie zuliebe ausgewählt. Das Layout entstand organisch, ungeplant.
Herausforderungen, auch ausserhalb des Berufslebens, sind eine seiner Leidenschaften: Velotouren und rigoroses Wintertraining bieten auch ausserhalb der Arbeit die Gelegenheit, grosse Ziele zu verfolgen.
Die Sticker
Nostalgie oder Erinnerung?
Die Arbeit und das Spiel
«Dä isch schön und ich bi viel i de Bergä!»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Diese Gebirgskette stammt von einer Kletterreise, die Jan vor einigen Jahren gemacht hat. Der Kleber wurde also lange vor dem Kauf des Laptops ausgewählt, mitgenommen oder gekauft und dann erst viel später „während dem richtigen Moment“ aufgeklebt. Gewissermassen überdauert oder überragt der Aufkleber und dessen symbolische Bedeutung die Verwendung des Laptops und bringt somit ein Konzept, welches über die Grenzen des materiellen Nutzens dieses Gerätes herauswächst, mit dem rein materiellen Objekt in Verbindung. Es wird Nostalgie, Fernweh und ein Träumen über zukünftige Pläne mit der Studien- und Arbeitswelt vereint. Die Betrachter:in hat es also zugleich mit einem Traum und einem Mittel zur Verwirklichung dieses Traumes zu tun.
Extrovertierte Repräsentation
«Ich ha dä vor allem schön gfundä»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Ganz im Einklang mit seinem Charakter und seinem Hobby findet die Betrachter:in auf dem Deckel des Laptops einen Aufkleber der globalen Fahrradbewegung „Critical Mass Theory“. Ganz seinem legeren Charakter treu, ist scheinbar die Hauptmotivation des Stickers seine Ästhetik und nicht die Repräsentation der Demobewegung, die dahinter steckt. Zur Motivationsfrage meint Jan: „Han ihn eifach schön gfundä“ und trotzdem steckt etwas mehr dahinter. Als begeisterter Velopendler liegt das Thema der Sicherheit im Strassenverkehr Jan am Herzen. Er meint „[Es] Müäs dä richtig Moment sie, dass er uf de Computer chunnt“. Ist dies ein Hinweis auf ein vergangenes Geschehen? Die Kombination einer globalen Bewegung mit der beinahe gleichgültigen Motivation, den Kleber tatsächlich zu verwenden, scheint wieder ein köstliches Beispiel der Menschlichkeit dieser „Stickerpraktik“. Es geht bei der Performation des Stickerklebens nicht etwa darum, ein Gespräch zu beginnen, sondern viel eher um eine komplexe Beziehung zwischen öffentlicher Bedeutung, persönlicher Vorlieben, Ästhetik und einfach dem Spass an der Handlung des Klebens. Die tatsächliche, aktivistische Bedeutung des Sujets steht wiederum im Hintergrund und die eifrig interpretierende Betrachter:in muss sich zugestehen, dass die gelesene Bedeutung hauptsächlich in ihrer eigenen Phantasie innewohnt.
Verdeckte Hegemonie
A feature, not a bug
«Wills lüchtet hets mi wundergno was es macht mit em Pink…»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Zwar wurde hier das Apple Logo überklebt, aber nicht aus bewusster Auflehnung gegen kapitalistische Hegemonie. Jan hat sich das Logo auf kreative Weise angeeignet, indem er einen Aspekt daraus, das sanfte Glühen des Apfels, verwendet hat, um die Farben auf dem Sticker aufleuchten zu lassen. Der Sticker wurde von einem Freund selber hergestellt. Die Handlung, das Markenzeichen des Herstellers beiläufig zu missachten und hinter der eigenen Kreativität verschwinden zu lassen, gar das anziehend, pulsierende Leuchten für Eigenes neu zu konzipieren scheint eine zutiefst menschliche Handlung. Die bei allen Laptops einheitliche Leuchtwerbung Apples wird nicht kritisch und gänzlich durch einen bewussten Protestakt vernichtet, sondern dient durch ihre inhärente Eigenschaft, der kreativen Selbstverwirklichung und dem Amusement des Besitzers.
Heimat
«Ich bi a zäh Konzert im Läbe gsi und feuf mal han I Ihn gseh»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Phenomden ist ein Zürcher Künstler, der vorwiegend über Themen schreibt, die für Jans Heimat relevant sind und sehr oft von seinem Geburtsstadtviertel erzählen. Der Aufkleber verweist auf das Lied „Streunendi Hünd“. Ein Lied, das Einsamkeit im Stadtleben thematisiert und somit eine Dichotomie darstellt, zwischen der dicht besiedelten Stadt und dem Gefühl, darin alleine zu sein. Für Jan hat dieses Lied einen starken Wiedererkennungswert und stellt einen Bezug zu seiner Heimat und seiner Kindheit her, zeigt aber durch die Erfolgsgeschichte des Musikers, dass auch aus unscheinbaren Innenstadtgebieten Grosses entstehen kann. Diesen Sticker interpretiere ich als Zeugnis, das für seine positive Lebenshaltung steht.
Freundschaft wird grossgeschrieben
«Dä han i Müässä, für min Kolleg! Und ich han au gern Pandabäre»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Naoo ist eine relativ neue Social Media App, welche in der Schweiz angesiedelt ist und vor allem im Raum Zürich aktiv ist. Einer von Jans besten Freunden arbeitet in der genannten Firma, weshalb Jan auch den Aufkleber verwendet hat. Pandabären liegen Jan zwar am Herzen, aufgeklebt wurde der Sticker aber wegen seines Freundes. Es ist also ein Sticker, welcher indirekt, durch das Aufkleben, für jemand anderen, vom sozialen Charakter des Besitzers zeugt und ihn somit auch auf der Bedeutungsebene hervorhebt. Der Sinn des Aufklebers ist nicht direkt der Ausdruck der Eigenidentität, wie es z.B. beim folgenden Sticker der Fall ist und trotzdem verrät der selbstlose Akt der Betrachter:in etwas über die Identität des Besitzers.
Wenn der Beruf politisch wird
«Mega grosses Thema i dä Schuell gsi…»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Die Pflegeinitiative war während Jans Ausbildung im Gespräch. Als auszubildender Pflegefachmann war dies ein höchst relevantes Thema und schmückte vielleicht un-überraschenderweise viele Laptops seiner Mitstudent:innen. Die Motivation hinter dem Aufkleben war einerseits der Berufsstolz, bzw. der Stolz an der momentanen Ausbildung, aber auch Solidarität zu signalisieren, mit seinen Mitstudent:innen und den Pflegefachleuten, die bereits in der Arbeitswelt tätig waren. Dies ist der einzige Aufkleber auf dem Laptop, den Jan mit mehreren Mitstudent:innen gemeinsam hat, weshalb er auch auf eine Gruppendynamik hinweist. Einerseits zeigt er Solidarität auf professioneller Ebene und andererseits innerhalb der persönlichen unmittelbaren Studentengruppe. Er steht also auf zwei Ebenen, der öffentlichen und der persönlichen, für Solidarität, Repräsentation und politische Aktivität.
Ironie und Kodierung
«Dä han I eifach lustig gfundä. Isch aber überhaupt keis politischs Statement… eifach en Witz…»
Interview mit Jan, 20. März 2023
Den 1312 Aufkleber hat Jan gefunden. Er ist zwar Code für die Bewegung „all cops are bastards“, Jan hat aber eigentlich gar kein schlechtes Bild von Polizist:innen und respektiert den Beruf. Als leidenschaftlicher Velofahrer und vor allem als Fixiebesitzer hat er aber auch schon weniger erfreuliche Erfahrungen mit der Zürcher Polizei gemacht. Mit einem Velo aus der „Counter Culture“, eines ohne Gangschaltung und Bremse und dann noch spärlich bereift, wurde er detailliert gebüsst, obwohl das Fahrrad innerhalb der Fixiekultur den Normen absolut entspricht. Der Aufkleber schmückt seinen Laptop willkürlich und nicht als Protestakt und dennoch bringt er Erinnerungen aus der Vergangenheit mit sich. Jan sieht diesen Aufkleber eher ironisch, vielleicht als humorvolle Stichelei für jene, die den Code kennen. Und genau die codierte Natur des Aufklebers macht auch seinen Reiz aus. Nicht jede Betrachter:in weiss, was hinter dem Aufkleber steckt, da er zunächst ein harmloses Bahnschild darstellt und erst durch das notwendige Hintergrundwissen an spezifischer Bedeutung gewinnt.
Meine Beziehung zum Informanten
Ich kenne Jan nun bereits einige Jahre und war ab und an mit ihm in derselben Wohngemeinschaft. So habe ich eine relativ gute Einsicht in seine Freizeitinteressen und bekomme auch ab und zu Geschichten aus seinem Berufsleben mit. Meine Analyse seines Laptops und der darauf klebenden Sticker basiert einerseits auf einem konkreten Interview und andererseits auf einer Beziehung, die ich in diesem Rahmen als teilnehmende Beobachtung betitle. Ich habe Jan ungefähr während drei Jahren beobachten können und habe so ein reiches Hintergrundwissen über seinen Charakter gewonnen. Ich mache somit keinerlei Objektivitätsansprüche, belege aber die detaillierte Natur meiner Analyse.
Abschliessend, -Wenn der Mensch mit dem Objekt in Zusammenhang gebracht wird-
Wird der Laptop im Zusammenhang mit dem Charakter und dem Interview von Jan betrachtet, wird es deutlich, dass das materielle Objekt einen hohen Wert hat. Der Laptop wurde erst nach mehreren Jahren beklebt, dann aber mit Aufklebern, welche einen emotionalen Wert darstellen. Thematisiert wird unter anderem die Erinnerung, die Heimat, Freundschaft, Berufs- und Ausbildungsstolz, Zusammenhalt, Ironie und Zukunftsträume. Der Laptop kombiniert also einen relativ hohen materiellen Wert mit einem Hohen Gedankenwert, einzig die Art und Weise des Klebens scheint willkürlich, und ungeplant. Diese Willkür erweist sich aber nicht als Werteverlust. Die organische Verteilung der Aufkleber, die unerwartete Reihenfolge des Klebens scheint auf die Arbeitserfahrung im Spital hinzuweisen. Jan erfährt täglich mit seinen Patienten das natürliche Weiterentwickeln von Lebensgeschichten, welche oft nicht vorausgeplant werden können.
These & Schlussfolgerung
Sichtbar im Zusammenführen des Menschen, mit dem verwendeten Objekt ist die These, dass sich Charaktereigenschaften und Verwendungseigenheiten wie der Verwendungszweck des Objekts oder der Kontext, in dem das Objekt verwendet wird, ablesen lassen. Auch über den sozialen Kontext, in dem sich die Informant:in befindet, lassen sich durch eine genaue Objektbetrachtung Aussagen machen. Das materielle Objekt wird also durch seine Verwendung und durch die aneignende Praktik des „Stickerns“ zu einem Bedeutungsträger und übersteigt somit in seiner Synergie mit der Nutzer:in die rein materielle Ebene.
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