Über Mila

Der Laptopdeckel

Die Sticker

Abschliessend

Über Mila

Mila ist eine 21 jährige Studentin an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. Sie interessiert sich sehr für Rockmusik der 80er und 90er Jahre, fühlt sich daheim in der Comedy-Twitter-Szene und identifiziert sich mit Gothic Style und Kultur. Ausserdem sind ihr ihre bosnischen Wurzeln sehr wichtig.

Der Laptopdeckel

Milas Laptopdeckel ist grösstenteils zugeklebt, obwohl sich noch manche freie Flecken finden lassen, für die sie schon Ausschau nach passenden Stickern hält. Der neu gekaufte Laptop ist frisch beklebt, dunkelgrau und es handelt sich um einen Apple-MacBook, obwohl das Apple-Logo dank der Sticker nicht mehr erkennbar ist. Die Anordnung der Sticker ist sehr unterschiedlich: Während sich manche überlappen, haben andere viel Platz und sind von Leere umgeben und von den anderen Stickern abgegrenzt. Die Sticker weisen unterschiedliche Formen, Farben, Grössen auf und haben laut Mila auch andere „Vibes“: rund, eckig, gross, klein, dunkel, hell, politisch oder einfach lustig. Schaut mensch die Sticker an, versteht er manche sofort und manche eben nicht. Je nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Szene, Stadt, oder Gruppe bedeuten die Sticker etwas anderes für die Betrachter:in. Was die Sticker aber alle zu vereinen scheint, ist ihre inhaltliche Aussage, die alle entweder auf politische Werte, Identitätszugehörigkeit, oder Individualitätsausdruck anspielen. All diese Werte werden auf dem Laptopdeckel kombiniert und scheinen Bezug aufeinander zu nehmen. Welche Aussagen tätigt Mila also mit ihrem Laptopdeckel, und an wen sind diese gerichtet?

Die Sticker

Verwurzelt

Bon Ajvar, ein St.Galler DJ, spielt mit dem Namen von „Bon Hiver“ und seiner bosnischen Herkunft und bezieht sich auf die typisch-kulinarische Beilage aus dem Balkan. Der Sticker repräsentiert also gleich mehrere Ebenen von Milas Identität, die ihr sehr nah am Herzen liegen: Zum einen ihre bosnischen Wurzeln und die damit verbundene Kultur, zum anderen aber auch die Musik, und letztendlich auch ihr Bezug zur Stadt St. Gallen, welche durch ihren Freund entstanden ist.

„Promaja“ – so heisst der berüchtigte tödliche Durchzug, vorherrschend im Balkan. Für Mila ist es ein Witz, für ihre Mutter nicht. Im Gegenteil – der Durchzug kennt laut ihren Eltern eben keinen Spass, anders als Mila, die diesen Sticker als den lustigsten ihrer Sammlung erachtet. Interessant sind aber die verschiedenen Interpretationsansätze zwischen der Gruppe, die Milas Wurzeln teilt, und jener, die nicht in diese Gruppe gehören. Denn für eine aussenstehende Betrachter:in des Stickers, die nicht weiss, was es mit „Promaja“ auf sich hat, scheint es sich im ersten Moment um einen historisch-politischen Sticker zu handeln, welcher vielleicht sogar einen Genozid zu kommemorieren scheint.

Zu diesem Sticker mit der Aufschrift „Tsüri“ von dem gleichnamigen Online-Magazin will sich Mila gar nicht gross äussern, denn „er sagt schon alles“ (Mila im Interview). Obwohl sich Milas Sticker und Identität also stark auf ihre bosnischen Wurzeln stützt, identifiziert sie sich auch stark mit der Stadt Zürich, in der sie gross geworden und aufgewachsen ist. Dass sie diese Liebe zur grössten Stadt der Schweiz als selbstverständlich ansieht, zeigt sich dadurch, dass sie nicht einmal eine Erklärung für diesen Sticker als notwendig erachtet. „Tsüri“ drückt also Milas gespaltene Identität aus und zeigt den Betrachtenden, dass auch mehrere Städte und Länder ein zu Hause sein können.

Der „Stadtchind“-Sticker ist die letzte Ergänzung auf Milas Laptopdeckel und hat wieder mehrere Inhaltsebenen. Die Kleidermarke Stadtkind ist von Freund:innen ihrer jüngeren Schwester gegründet worden, wodurch Mila den Sticker mit ihrer Schwester und somit ihrer Familie assoziiert. Zum anderen aber findet Mila die Marke selbst cool und will diese möglichst unterstützen. Durch den Sticker macht sie also auch aufmerksam auf diese Marke, und betreibt damit ihre Art der „Werbung„. Der Hauptgrund für das Aufkleben dieses Stickers ist aber, dass er erneut ihre Liebe zur Stadt Zürich ausdrückt. Denn obwohl es anfangs unscheinbar ist, bilden die Umrisse des abgebildeten Trams in Zürich die Bustaben „z ü r i“ und stehen damit wieder für die Stadt selbst. Die Marke „Stadtkind“ beherbergt im Namen schon seine Herkunft aus der „Stadt“ und benutzt das in der Schweiz einzigartige Design der Zürcher Trams als Identitätsmerkmal.

https://stadtchind.ch/shop/

(Liebevolles) Kämpfen

Der „Make Love Not CO2“ ist einer der expliziteren, politisch-aktivistischen Sticker auf Milas Laptop. Langsam zeigt sich also bei ihrer Stickerwahl der Trend zu friedlicheren, fast schon liebevollen Aussagen. Dies steht im Gegensatz zu den üblichen, politischen Aufrufen und Statements, die oftmals harscher und expliziter sind. Dieser „Co2“ Sticker setzt sich beispielsweise für die Klimagerechtigkeit ein, indem er zwar zum nationalen Klimastreik aufruft, sich jedoch gleichzeitig auf Inhalte wie Liebe und Nähe zu anderen Menschen bezieht. Der Fokus liegt also auf etwas Positivem, und nicht auf dem Klimakampf selbst, obwohl dieser dennoch der zentrale Inhalt bleibt. Mila will mit diesem Sticker also für Awareness sorgen, und dabei gleichzeitig die Wichtigkeit der Liebe und des Respekts zu Mitmenschen betonen.

Ich mag die generelle Aussage dahinter: Es ist nicht aggressiv, sondern einfach ein „Sei nett“, aber eben nicht nur zueinander, sondern auch zum Klima.

Mila im Interview über diesen Sticker

Der Pride-Herz Sticker zeigt laut Mila ihre Solidarität und den Support für die Queer-Community, mit welcher sie sich stark verbunden fühlt und der sie auch selbst zugehörig ist. Milas Sticker zeichnet sich erneut durch den Inhalt der Basis der Liebe, des Verständnis und der Solidarität aus. Dies wird hier durch die Herzform erreicht, während der politische Inhalt des Stickers durch die Regenbogenfarben vermittelt wird. Der Sticker ist somit nicht komplex und einfach zu verstehen. Er bedarf auch keinen Text und manifestiert sich nur durch das Optische als Symbol der Liebe. Dieses Symbol agiert aber auf zwei Ebenen: Sowohl die Liebe zu Mitmenschen als auch die gleichgeschlechtliche Liebe. Dieser Inhalt wird auch bei den anderen Stickern, auf die eine oder andere Weise, vermittelt – sei dies durch die Herzform wie bei diesem Sticker, oder indem ganz simpel „Love“ im Sticker steht, wie im vorhergehenden Beispiel.

Dieser politisch-aktivistische Einhorn-Sticker symbolisiert erneut (aber nicht nur) Liebe und Solidarität zu marginalisierten Randgruppen, grenzt sich aber gleichzeitig aktiv und explizit gegen mehrere Diskriminierungsebenen ab, nämlich gegen „Racism, Sexism, Homophobia, Antisemitism, Transphobia, Facism, [and] Conspiracy Theories!“. Diesem Inhalt stimmt Mila eben auch zu, und das soll man auf ihrem Laptop auch erkennen. Dass das Hauptereignis, der Eye-Catcher, dieses Stickers aber ein Regenbogen kotzendes Einhorn ist, fand Mila jedoch das Coolste an dem Sticker. Der Regenbogen, gerade in Verbindung zu dem Einhorn, repräsentiert zum einen die Queer Community, zum anderen findet Mila diesen Sticker aber auch einfach ästhetisch ansprechend. Denn er passt in ihren Vibe. Mila erzählt im Interview, dass sie diesen Sticker lustigerweise mitgenommen hat, bevor sie überhaupt das Kleingedruckte gelesen hat, und gemerkt hat, dass es sich hier um einen politischen Inhalt handelt. Denn die Überschrift des Stickers, „Sick of It All“ ist zufälligerweise auch der Name einer von Milas Lieblingsbands. Obwohl der Sticker zwar in keinerlei Zusammenhang zu dieser Musikruppe steht, ist es für Mila doch ein Stück weit zu ihrem persönlichen Merchandise geworden, der aber eben nicht nur coole Rock-Musik repräsentiert, sondern eben auch die politischen Werte, für die sie stark einsteht, wie auch ihren persönlichen ästhetischen Geschmack trifft. Erneut sendet dieser Sticker also erstmals eine positive Nachricht durch das Einhorn, welches mit der Queer Community verbunden wird, obwohl es im Detail betrachtet dann für politische Werte kämpft. Somit passt auch der „Sick of It All“ Sticker zu Milas Thema von „Kämpfen, aber mit Liebe und Respekt“.

Früher klebte dieser wohl bekannte „kein mensch ist illegal“- Sticker auf Milas Handy, doch als sie das Modell zu einem kleineren Handy wechselte, passte der Sticker aufgrund seiner Grösse nicht mehr. Da Mila aber die politische Nachricht dieses Stickers als enorm wichtig erachtet, wurde er sorgfältig auf ihren Laptop geklebt, anstatt ihn wegzuschmeissen. Auf einer zwischenmenschlich-kommunikativen Basis ist interessant, dass der Sticker laut Mila viele neugierige Blicke auf sich wirft. Sie erklärt dies mit seinem Wiedererkennungswert – besonders Menschen in linkspolitischen Kreisen kennen dieses Symbol sehr gut – und wegen seines Designs ist es schon von Weitem gut ersichtlich. Der Sticker positioniert also Milas Laptop und damit auch Mila selbst auf dem linkspolitischen Spektrum und ist vergleichsweise der Sticker, der die lauteste und expliziteste Nachricht an die Betrachtenden sendet: „Ich bin anti-rassistisch“. Dadurch grenzt sich dieser Sticker von Milas anderen politischen Stickern ab, indem die Nachricht des Liebevollen nicht ersichtlich ist, und stattdessen eine klare Aussage abgedruckt ist. Der Sticker sagt also aus, dass „kein mensch illegal ist“, und dass dies auch nicht zur Diskussion oder Meinungsverschiedenheiten steht.

Musik in Stickerformat

Mila liebt Musik. Doch Musik lässt sich leider schwer auf einen Laptop kleben und kann deshalb nur schwierig nach aussen kommuniziert werden. Ausserdem: Mila liebt Halloween. Sie liebt grusel. Sie liebt Gothic. Und deshalb liebt sie auch diesen Halloween-Edition Exclusive Merchandise Products (EMP) Sticker, weil er eben ihr Lieblings-Musikgenre auf ästhetischer Weise vermittelt, und dabei „nicht so boring wie die normalen EMP Stickers“ ist (Mila im Interview). Und da die EMP Sticker immer gratis mit jeder Bestellung mitgeliefert werden, hat er fast schon automatisch seinen Weg auf den Laptopdeckel gefunden. Dabei steht dieser Merch-Sticker stellvertretend als verbildliches Symbol der Musik ein, da sich Musik nicht in seiner natürlichen Form auf den Laptop kleben lässt. Mila hat hiermit also einen guten Zwischenweg gefunden.

https://www.emp-online.ch

Misfits, es handelt sich um eine Punk-Rock Band aus den 1970ern, hat Mila zufälligerweise in einem Restaurant gefunden, mitgenommen, und auf ihren Laptop geklebt. Sie fand, dass er nicht nur ihren Musikgeschmack vermittelt, sondern auch farblich-ästhetisch zum EMP Sticker passt. Milas Laptopdeckel beherbergt also nun schon mehrere (direkte und indirekte) Referenzen auf Musikgruppen oder -Genres, die Mila gern hört. Meistens handelt es sich bei ihrem Musikgeschmack um 80s oder 90s Hard-Rock, Punk, oder Heavy-Metal. Und auch wenn Musik nicht abgedrückt werden kann, so kann sie mithilfe dieser Sticker dennoch einen Teil ihrer Identität ausdrücken und mit Betrachtenden kommunizieren. Erneut ergibt sich das Phänomen, dass Gleichgesinnte die Stickers und Bandnamen erkennen werden, während andere die Sticker zwar nicht verstehen mögen, aber immerhin eine spezifische Ästhetik und, wie sie sagt, „Vibe“ von Mila und ihrer Person vermittelt bekommen. Der Laptopdeckel kann also als Leinwand ihres musikalischen Geschmackes – zusätzlich zu ihrem ästhetischen Geschmack – gelesen werden.

Mila sieht ihren Laptopdeckel als eine Repräsentation ihres Selbsts in künstlerischer Form. Die Sticker passen zwar zu ihrem ästhetischen, musikalischen, inhaltlichen Geschmack, aber sie plant ihre Sticker nicht durch. Wenn sie einen Sticker findet, der zu ihr passt, dann kommt er auf den Laptop. So einfach. Und welche Sticker passen? Eben die, die in ihrem Inhalt und in ihrer Form Milas Geschmack, ihre Identität, ihre politische Meinungen, und ihre Ästhetik widerspiegeln. Mila will, dass andere Menschen anhand ihres Laptopdeckels wissen, wer sie ist, wie sie ist, was sie ist. Die Sticker drücken schnell und auf den Punkt gebracht eine Kurzbeschreibung ihres Charakters aus, und das findet sie cool. Genauso wie sie spontan durchs Leben geht, überlegt sie sich also nicht allzu lange, ob ein Sticker den Platz auf ihrem Laptop verdient. Er soll einfach cool aussehen, und er soll ihr Spass machen. Das sind für sie die wichtigen Punkte. Eine leere Leinwand ist langweilig, und sie will diese Langenweile mit den Stickern individualisieren und ihren Alltag damit etwas „lustiger“ gestalten.

Meine Sticker müssen nicht extra Sinn machen. Wenn es etwas ist, was keinen Sinn hat, aber es sieht cool aus, dann würd ich es auch aufkleben.

Mila im interview

Dennoch betont Mila weiter, dass der Inhalt wichtig ist. Wenn sie nicht hinter einer Aussage eines Stickers steht, dann würde sie den Sticker auch nicht aufkleben. Irgendwo muss sie sich also doch mit den Stickern identifizieren können – das geht aber auch, wenn ein Sticker einfach lustig aussieht und kein grösserer Zusammenhang besteht. Die Sticker reflektieren damit Milas extrovertierte Natur: Sie ist gerne im Gespräch, sie redet gerne mit fremden Menschen, und ihre Sticker helfen ihr dabei. Sie wird nicht selten auf ihren Laptopdeckel angesprochen, und daraus entstehen lustige, interessante, neue Gespräche. Gleichzeitig kommen durch ihre Sticker und deren Inhalte nur Menschen auf sie zu, die ähnlich denken und ähnliche Interessen aufweisen. Manche Sticker setzten sogar eine bestimmte Identität oder Gruppenzugehörigkeit voraus: Der „Promaja“-Sticker führt entweder zu anderen Menschen mit ähnlicher Herkunft, welche ihn verstehen und lustig finden, und sich freuen, Mila als Bestandteil ihrer Community kennen zu lernen. Andere fragen nach der Bedeutung des Stickers, da er sehr prominent heraussticht. Mila freut sich über beides, sie mag den Austausch und sie erzählt gerne über ihre bosnischen Wurzeln. Interessanterweise ergibt sich damit eine Pluralität von Funktionen ihrer Sticker nach aussen: Entweder sie sind jedem Menschen bekannt und führen zu einer schnellen Gesprächsthema, oder sie beziehen sich auf spezifische Communities, und sind somit in sich gekehrt, bleiben aber gleichzeitig plakativ.

Abschliessend – Kommunikation oder Ausdruck?

„Decorate your Laptops – it’s fun“, sagt Mila abschliessend während unseres Interviews. Egal was, egal wie, egal wo, einfach mal kleben – solange die Aussage hinter den Stickern vertretbar ist natürlich. Sticker sind vergänglich. Sie können schnell abgeklebt oder wieder neu aufgeklebt werden. Ein leerer Laptopdeckel ist für Mila aber schlichtweg langweilig. Der Laptopdeckel bietet eine Möglichkeit, seinen Charakter auf einem materiellen Gegenstand auszudrücken, mit der Umwelt zu kommunizieren, und auch einfach Spass zu haben. Wenn Mila in der Bibliothek einen leeren Laptopdeckel sieht, dann fällt ihr die Person hinter dem Bildschirm nicht weiter auf. Der Charakter dieser Person ist abwesend. Bei einem beklebten Laptop hingegen, kann die Besitzer:in schonmal ein wenig eingeschätzt werden – vertritt sie ähnliche Interessen wie ich? Hat sie einen ähnlichen Musikgeschmack? Teilen wir bestimmte kulturelle Erfahrungen? Oder mag ich einfach den Style von ihrem Laptopdeckel? Damit erfüllen die Sticker für Mila ähnliche Funktionen und Werte, wie zum Beispiel Kleidung dies macht. Sie vermitteln zwischen Menschen. Wir können Milas Praxis des Bestickerns folglich als einen Akt der Kommunikation lesen. Dabei scheint es sich sowohl um eine zwischenmenschliche, nach aussen gerichtete Kommunikation zu handeln, als auch um eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Der Inhalt dieser Aussagen ist dann aber nicht per se politisch, ästhetisch, oder musikalisch, sondern der Inhalt ist an erster Stelle: „Das bin ich. Das ist Mila“.

*Die Besitzerin des Laptops möchte gerne anonym bleiben, weshalb der Name für diesen Text geändert wurde.