«der Kern der Gleichstellung liegt in der Familie. Wenn dort Unterschiede gemacht werden, die bringt man fast nicht mehr weg.»
Ruth Reusser ist in Bern geboren und wuchs als jüngste von drei Töchtern in einer Familie auf, in der die Förderung der Töchter eine Selbstverständlichkeit war. Ihr Vater, von Beruf Oberrichter, erzählte am Mittagstisch oft lebhaft von den Rechtsfällen, die ihn in seinem Arbeitsalltag beschäftigten. Diese Gespräche vermittelten Ruth Reusser nicht nur erste Einblicke in die Justiz, sondern weckten auch ihre Faszination für das Recht, weil es nahe am Menschen ist. Die Entscheidung für ein Jurastudium fiel Ruth Reusser zunächst nicht leicht: Sie musste sich zwischen Mathematik, Biologie und Jura entscheiden und entschied sich schliesslich für das Recht – eine Entscheidung, die sie nie bereut hat.
1965 machte sie die Matura und begann ihr Jurastudium an der Universität Bern. Inmitten von 100 männlichen Kommilitonen bildete sie mit fünf weiteren Frauen eine kleine Minderheit an der rechtswissenschaftlichen Fakultät. Trotz dieser Unterrepräsentation erlebte sie keine Diskriminierung oder Abwertung – weder von Seiten der Studierenden noch von Seiten der Professoren. Die Studienjahre empfand Ruth Reusser als prägend und bereichernd, und als sie 1970 ihr Studium abschloss, bot sich ihr eine einmalige berufliche Chance: das Sekretariat der Expertinnenkommission für Familienrecht.
Damit begann eine Laufbahn, die über mehrere Jahrzehnte tiefgreifende Gesetzesrevisionen im schweizerischen Familienrecht beeinflusste. Sie begleitete insb. die Revisionen des Adoptions-, Kindes-, Ehe- und Scheidungsrechts und setzte sich leidenschaftlich für Rechtsänderungen ein, die das Wohl der Frauen und Kinder in den Mittelpunkt stellten. Besonders am Herzen lag ihr das neue Eherecht – sie trat nach einem Referendum im Abstimmungskampf in ihrer Freizeit bestimmt 120 Mal auf, um sich dafür einzusetzen – und die Gleichbehandlung ausserehelicher Kinder.
Angetrieben vom Ziel, strukturelle Diskriminierungen zu beseitigen und die Rechte benachteiligter Gruppen zu stärken, hat sie massgeblich zu Reformen beigetragen, die das Schweizer Recht nachhaltig geprägt haben. Ihr Werdegang steht beispielhaft für das Engagement und die Überzeugung, dass die rechtliche Gleichstellung in der Gesellschaft beginnt – und damit in der Familie.