Im Gespräch mit Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss wird deutlich, wie eng gesellschaftliche und politische Veränderungen miteinander verbunden sind. Sie war von 1993 bis 2002 Mitglied der Schweizer Regierung. Geboren 1940 wuchs sie in einer kleinbürgerlichen Familie mit liebevollen Eltern auf, die den traditionellen Rollen von Vater und Mutter entsprachen. Ihre Jugend war geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen, insbesondere mit dem Antisemitismus und der Geschichte der jüdischen Minderheit.
Auf Anraten der Eltern besuchte sie die Handelsschule, weil sie es für wichtig hielten, auch als Frau wirtschaftlich unabhängig zu sein. Heiraten sei zwar das normale Schicksal einer Frau, aber im Falle von Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Tod des Mannes müsse auch sie Geld verdienen. Nach Abschluss der Handelsschule und einer ersten beruflichen Erfahrung begann ein langer Weg, der sie von der Sozialarbeit über die Entwicklungshilfe bis hin zur Arbeit als Sekretärin des Schweizerische Gewerkschaftsbund führte. Ihre politische Sozialisation war stark international geprägt, sie war aktiv in Bewegungen gegen Rassismus sowie für die Unterstützung von antikolonialen Bestrebungen und vom Kampf für Demokratie in Spanien und Portugal. In der Schweiz engagierte sie sich gegen Fremdenfeindlichkeit, für soziale Versicherungen und für die gleichen Rechte für Frau und Mann, in allen Lebensgebieten.
In ihrer politischen Arbeit war ihre Haltung klar und konsequent: „Erst verstehen, dann handeln“. In ihrer Laufbahn, die sie in verschiedenen politischen und sozialen Bereichen verbrachte, zeigte sie eine bemerkenswerte Fähigkeit, politische Allianzen zu schmieden. Besonders hervorzuheben ist ihr Engagement bei der Reform der Mutterschaftsversicherung. Sie setzte sich über Jahrzehnte dafür ein, dass Mütter nach der Geburt einen bezahlten Urlaub von mehreren Wochen erhalten.
Als Mitglied des Bundesrates blieb sie standhaft und setzte sich immer wieder gegen Widerstände aus verschiedenen politischen Lagern durch, die versuchten, Reformen zu blockieren oder Verschlechterungen in existierenden sozialen Werke zu realisieren. Ihr ganzes politisches Wirken war geprägt von der Überzeugung, dass wirkliche Veränderungen nur erreicht werden können, wenn man den Mut hat, bestehende Missstände anzusprechen und Lösungen zu ihrer Überwindung sorgfältig und in Zusammenarbeit mit Betroffenen auszuarbeiten, vorzuschlagen und von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen.
Ihre Karriere macht deutlich, dass ihr Engagement nicht nur politischer Natur war, sondern tief in ihrer Vision einer gerechten und inklusiven Gesellschaft verwurzelt ist.