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Prof. Dr. Hildegard Keller empfängt mich unprätentiös in ihrer Dachwohnung an der Zollikerstrasse. Augenfällig sind die Bücher, die hinter ihrem Schreibtisch eine ganze Wand einnehmen und auch auf den Tischen und Fenstersimsen liegen. Als sie mich begrüsst, läuft an ihrem Arbeitsplatz noch der Computer. Sie schreibt gerade an der Biographie von Alfonsina Storni, ihrem aktuellen Projekt. Das tut sie an der gleichen Stelle, an der schon Max Frisch in die Tasten haute, als er in diesem Haus noch das Familienleben genoss. Im Interview spricht die Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin, Jurorin, Autorin und Regisseurin über Höhepunkte des letzten Blockseminars.

Hildegard, welches Buch liegt zurzeit bei dir auf dem Nachttisch?

Keines, da ich nicht im Bett lese. Zurzeit lese ich zwei Bücher für den nächsten „Literaturclub“. „Physik der Schwermut“ von Georgi Gospodinov. Das habe ich vorgeschlagen. Der Vorschlag von Elke Heidenreich ist Chimamanda Ngozi Adichies Roman „Americanah“. Es kommen mindestens noch zwei hinzu. Die Bücher muss ich bis zur Aufzeichnung der Sendung am 23. Juni lesen. Zu meinem Vergnügen habe ich mir antiquarisch Maximilian von Wied zu Neuwieds „Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817“ in zwei Bänden gekauft. Mal schauen, was er und der Zürcher Indianermaler Karl Bodmer alles erlebt haben.

Dich scheint es immer wieder nach Südamerika zu ziehen. Das letzte Blockseminar hast du Hans Staden gewidmet, einem Söldner und Schriftsteller des 16. Jahrhunderts. Wie bist du auf ihn gekommen?

Lateinamerika ist seit Jahrzehnten ein Interesse von mir. Ich habe auch ein Jahr in Mittelamerika gelebt. Und in Bloomington habe ich einen Erstdruck seiner Wahren Historia entdeckt. Ich habe dann in Amerika zwei Seminare zu diesem Thema angeboten. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, wann Staden mir zum ersten Mal über den Schreibtisch gelaufen ist. Das ist schon lange her.

Das Blockseminar ist vorbei. Was hast du an neuen fachlichen Erkenntnissen dazugewonnen?

Ich habe enorm viel gelernt! Am meisten von den Spezialistinnen und Spezialisten, die sich in verschiedene Teilbereiche eingearbeitet haben. Etwa von den starken Kunsthistorikerinnen, die der ikonographischen Rezeption nachgegangen sind. Der Sexualisierung bzw. Erotisierung der bildlichen Darstellung der Wilden bei Theodor de Bry bin ich bisher noch nie nachgegangen. Auch die diachronen Fragestellungen fand ich packend. Manuel etwa hat mir da neue Aspekte aufgezeigt. Ich könnte die Liste noch lange fortführen.

Was war Dein persönliches Highlight der drei Tage? Es muss nicht fachlicher Natur sein.

Den Nachmittag in der Zentralbibliothek fand ich toll. Zu sehen, wie viele von euch angefangen haben, mit alten Drucken und anderen Primärquellen zu arbeiten.  Die Leidenschaft, die für alte Drucke entflammte, hat mich sehr gefreut.

Am Ende des Seminars hast du Evaluationsbögen ausgeteilt. Was schätzen die Studenten an deiner Lehrtätigkeit am meisten?

Da gibt es einen Punkt, den viele genannt haben, aber auch allen zu verdanken ist: Die Gemeinschaft, die im Laufe des Blockseminars entstanden ist. Viele haben geschrieben, sowas hätten sie an der Uni noch nie erlebt, das ist wunderbar. Der normale Semesterbetrieb ist kurzatmig und schnelllebig. Man sieht sich für zwei Stunden die Woche und am Ende des Semester weiss man immer noch nicht, wie der Sitznachbar heisst. Dieses Manko des Lehrbetriebs auszugleichen ist sicher ein wichtiges Anliegen von mir.

Gab es auch Kritik?

Manche haben das Arbeitspensum genannt. Die meisten haben das aber in einem Nebensatz relativiert und auch das Positive an einem derart dichten Seminar gesehen. Andere fanden den Takt des Seminars zu hoch. Alle zwanzig Minuten ein neues Thema und dazwischen die Exkursionen, das ist viel, dessen war ich mir bewusst. Diese Kritik war erwartbar und hat mich nicht erschreckt.

Du hast vorhin erwähnt, dass dir bei deiner Lehrtätigkeit der soziale Aspekt am Herzen liegt. Auf was legst du sonst noch Wert?

Auf einen thematisch weit gesteckten Arbeitsrahmen, in dem die Studenten ihre Neugier einbringen und ausleben können. Es sollen auch Ansätze für kreativere Arbeiten möglich sein. Kreativ auch in einem intellektuellen Sinn. Ich finde es zudem schön, wenn Studenten Fähigkeiten zeigen können, von denen wir sonst in einem klassischen Seminarformat kaum erfahren hätten. Sei es, dass einer neben dem Schreiben seiner Seminararbeit einen Film oder Musik macht, eine Geschichte schreibt oder exotisch bäckt.

Hildegard 2

Hildegard Keller signiert ihr Buch „Meine Seele hat kein Geschlecht“ von und über Alfonsina Storni. Bald folgt die Biographie Stornis.

Du bist an der Universität Zürich trotz deiner Beliebtheit bei den Studenten lediglich als Titularprofessorin tätig. Warum gibt man dir keinen Lehrstuhl?

Ich war von 2001 bis 2007 Assistenzprofessorin. Das war eine befristete Stelle.  Einen Lehrstuhl habe ich trotz einer vakanten Stelle nicht bekommen. Auf die Gründe möchte ich nicht näher eingehen, es war eine schwierige Zeit für mich und meinen Mann. 2007 erhielt ich einen Ruf auf einen Lehrstuhl am German Department an der Indiana University in Bloomington USA und es ist Gras über die Geschichte gewachsen. Würde man mir heute ein interessantes Projekt in Zürich anbieten, käme ich zurück. So wichtig und schön die bald acht Jahre in Amerika auch waren – es ist anstrengend, zwischen zwei Kontinenten zu pendeln.

Was können Schweizer Universitäten von amerikanischen lernen?

Gerade die geisteswissenschaftlichen Fächer könnten marktwirtschaftlicher denken. Das klingt ökonomischer, als es gemeint ist. Es heisst lediglich, dass man auf Menschen, Lehrangebote und Projekte setzt, welche die Studierenden und die Dozierenden gleichermassen ansprechen. Damit meine ich nicht, dass der zahlende studentische Kunde König sein soll, sondern  dass die Ausbildung junger Menschen ernst genommen wird, dass man sie in einem umfassenden Sinn gut betreut. Das Bemühen der amerikanischen Professoren um die Studenten und die Attraktivität der Lehre erzeugt eine ganz andere Stimmung als hier. Zudem könnten die hiesigen akademischen Betriebe von der positiven Haltung der amerikanischen lernen. Die Corporate Identity auf der Ebene der Departments ist wichtig, denn hierin wurzelt auch die Alumni-Kultur. Weg von der Klage hin zu einem gesunden Selbstbewusstsein. Was wir machen, ist etwas Tolles!

Und zu guter Letzt eine Frage, die viele Zürcher Studenten der Germanistik interessieren dürfte: Wo führt die Reise in deinem nächsten Blockseminar hin?

Das nächste Blockseminar baut auf dem Staden-Seminar auf. Das ist atypisch für mich. Meistens breche ich nach jedem Seminar zu neuen Ufern auf. Aber ich habe zu Beginn gedacht, dass Hans Staden eine singuläre Figur ist. Jetzt habe ich aber herausgefunden, dass es eine ganze Reihe an deutschen Südamerikafahrern gegeben hat. Sicher ist Staden der spektakulärste Fall ist, weil er von den Indigenen gefangen genommen und fast gefressen worden ist, aber auch weil er die Grundlage für die Ethnographie Brasiliens darstellt. Bei anderen Südamerikafahrern stand das Forschungsinteresse mehr im Vordergrund. Diese hatten auch einen anderen Bildungshorizont. Im nächsten Frühjahr 2015 gesellen sich also ein paar Kollegen hinzu.

by Raoul

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