Category Archives: Kleidung und Mode: Urbane Denke- und Verhaltensmuster im Jahr 2021

Valentina Neumeister

KLEIDUNG UND MODE* :
URBANE DENK- UND HANDLUNGSMUSTER IM JAHR 2021

Kleidung und Mode ist Konsumgut mit gewichtiger, wirtschaftlicher Bedeutung und gleichzeit, als äusserste Hülle unseres Körpers, nicht zu unterschätzendes soziales Zeichensystem. Sie vermittelt bereits vor einer ersten Interaktion zwischen zwei sich unbekannten Menschen gewisse Informationen über den Träger oder die Trägerin. Kleidung kommuniziert ohne zu kommunizieren. Die Deutsche Kultur- und Modewissenschaftlerin Gertrud Lehnert nennt Mode gar oberste Ordnung: 

„Während bis ins 18. Jahrhundert (…) das Leben und die Mode durch politische, gesellschaftliche, religiöse etc. motivierte Verhaltensnormen, Regeln, Zeremonien und Rituale strukturiert wurde, verhält es sich heute umgekehrt. Es ist die Mode, die alle anderen Lebensbereiche reguliert und Verhaltensweisen hervorbringt.“

– Gertrud, Mode, S. 9.

Mode ist heute Mittel zur effektivsten Ästhetisierung des Selbst und des eigenen Lebens. Denn Lebensstile sind immer mehr von der Möglichkeit, etwas zu konsumieren, abhängig. Durch das Konsumieren von Dingen, statten wir unser Leben, unseren Alltag und unser Selbst aus, und versuchen es ästhetisch zu gestalten. Und Kleidung, so Lehnert, „gehört zu den wichtigsten konsumierbaren Dingen.“ Der Mensch träumt von einem gewissen Selbst oder Lebensstil, welches er sich durch Shopping verspricht zu erreichen. Kleiderkaufen ist eine Art imaginäre Wunscherfüllung.

Man kauft sich keine Turnschuhe, sondern ein Lebensgefühl.

– Reckwitz, deutschlandfunkkultur.de


Welche Lebensstile kaufen sich also Zürcherinnen und Zürcher im Jahr 2021?
Ein Jahr geprägt von globaler Pandemie und Klimakrise. Von sozialen Einschränkungen, erneuten Lockdowns und gleichzeitig immer deutlich werdenden Umwelt- und Menschenrechtsproblemen. Ein Jahr, oder eine Zeit, in welchem sich der Alltag für viele grundlegend verändert hat. Wie wird dieser neue Alltag ausgestattet? Wie wird über den Umgang mit Kleidung und Mode gedacht? Wie wird dieses Denken begründet? Und wie wird tatsächlich gehandelt? 

Ich habe das Mindset bezüglich des Umgangs mit Kleidung und Mode untersucht.
Hier und Jetzt.
In Zürich.
Im Jahr 2021.

NACHHALTIGKEIT + EINZIGARTIGKEIT – Die von mir mittels qualitativer Befragung und teilnehmender Beobachtung erkannten Zürcher Denk- und Handlungsmuster in Bezug auf Kleidung und Mode zeichnen sich einerseits durch das Ideal der Nachhaltigkeit, und anderseits das Ideal der Einzigartigkeit aus:

Es wird bevorzugt ökologisch hergestellte Kleidung, oder solche mit möglichst geringem ökologischen Fussabdruck konsumiert und versucht, damit bewusst und nachhaltig umzugehen. Denn ein solcher Umgang verkörpert ein „besonderes Wissen“. Ein Wissen, welches mit moralischer Überlegenheit gleichzusetzen ist und wie eine Art Statussymbol fungiert. Und so wird es auch eingesetzt: Das Wissen wird stolz präsentiert, bereitwillig geteilt, gezeigt und darüber berichtet und sich fast eine Art damit geschmückt. Der nachhaltige Umgang mit Kleidung ist Statusarbeit.

„Der Aspekt der Nachhaltigkeit ist so wie ein Plus dazu.
Es gibt so ein gutes Gefühl… ja fast eine Rechtfertigung, etwas zu kaufen.“

„Ich meine meinst du Zara oder H&M interessiert, ob der Bauer, dem sie Wolle zu einem Spottpreis abkaufen,
mit dem Geld überleben kann? Natürlich nicht!“

„Auch ich kaufe manchmal bei Zara oder H&M ein. Ich habe dann aber immer ein mega schlechtes Gewissen.“

„Ich bin einfach überzeugt, dass wenn man wirklich komplett nachhaltig sein möchte,
gibt es einfach nur Secondhand.“

Genauso wichtig scheint aber auch die Individualität von Kleidungsstücken zu sein.

„Ich finde es schwierig, wenn jemand einfach versucht, sich stylisch anzuziehen…
Ich finde dann ist es sehr unpersönlich…“

„Also ich liiiieeebe vor allem so die Kleider von meinem Mami von der 80er Jahren…

„Wenn ich etwas im Secondhand Store finde ist es wie… ja es findet auch mich…
Es ist wie so eine fall-in-love Situation… wie so ein Glücksfall“

Kleidungsstücke werden mit Bedeutung und Emotionen beladen, wodurch sie einzigartig und ganz besonders werden. Erst dann sind sie wertvoll, werden geschätzt, erinnert, behalten und es wird bewusst und vorsichtig mit ihnen umgegangen. Diese Bedeutungszuschreibung und Beladung mit Emotionen ist dabei ganz divers: Das Kleidungsstück wird mit einem Event oder einer Geschichte, einem Ort, einer Zeit, einer Person, einem Moment oder den eigenen Idealen verbunden. Es wird somit zu mehr als eben nur einem Kleidungsstück.

Es, das Kleidungsstück, und der Umgang damit, ist Mittel zum Ausdruck und zur Ausgestaltung unseres Selbst und unseres Lebens. Es verkörpert unser Lebensgefühl, beziehungsweise jenes, das wir anvisieren. Denn das gekaufte Lebensgefühl – bspw. die neuen supernachhaltigen und multifunktionellen Turnschuhe – kann vom tatsächlichen Lebensstil divergieren: Der nachhaltige Umgang mit Kleidung lediglich Schein statt Sein darstellen. Der schlanke Kleiderschrank kann Ergebnis von regelmässigem Ausmisten und Wegschmeissen von Kleidung, statt von bewusstem und reduziertem Konsum, sein. Und genau so ist es in vielen von mir beobachteten Fällen.

Die Erklärung?
Unsere Welt ist auf Konsum ausgerichtet. Fast-Fashion Angebote sind zu verlockend, zu einfach und zu bequem und werden in ihrer Kommunikation immer glaubhafter und manipulativer, während es den nachhaltigen Alternativen noch an Bekanntheit, Unkompliziertheit und Fülle fehlt. Die Folge ist eine Diskrepanz zwischen der Wissens- und Handlungsebene, welche sich letztlich bei der Täterin, durch schlechtes Gewissen äussert, sofern das Missverhältnis erkannt wird. Ein Missverhältnis, welches vorzüglich den Ypsiloner – primär mein Forschungsfeld – zugeschrieben wird, zumal diese Generation zwischen den Bedürfnissen der Selbstverwirklichung einerseits, und dem Willen, die Welt zu verbessern, anderseits steht.

Die Frage stellt sich also: Kann das wachsende Angebot und die Optimierung nachhaltiger Angebote jene Divergenz alleine nivellieren, oder muss sich zusätzlich auch das Bedürfnis der einfachen, günstigen und schnellen Selbstverwirklichung, etwa durch imaginäre Wunscherfüllung mittels modischer Kleidung, einstellen?

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*Ich verwende die Begriffe Mode und Kleidung als Kollektiv-Ausdruck für Bekleidungsstücke. Es ist also festzuhalten, dass mit dem Terminus „Mode“, der vieles sein kann und umgekehrt vieles Mode sein kann, in diesem Text lediglich Kleidermode gemeint ist. Also Kleidung, die der Mode entspricht, beziehungsweise Kleidung, die durch Zuschreibungspraktiken zur Mode wurde.

Lehnert, Gertrud: Mode – Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis (2. unveränderte Auflage 2015). Bielefeld: transcript-Verlag, 2014.

Neckel, Sighard: Ökologische Distinktion. In: Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. transcript-Verlag, 2018. S. 59-76.

Neumeister, Valentina: „You can’t sit with us“ – Eine Annäherung an gesellschaftliche Praxen der Abgrenzung durch Kleidung und Mode. Seminararbeit HS18/ FS19, Universität Zürich, 11.03.2018.

Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel Der Moderne. Erste Auflage ed. Berlin: Suhrkamp, 2017.

Reckwitz, Andreas: Plädoyer für eine Abkühlung öffentlicher Debatten – Andreas Reckwitz im Gespräch mit Thorsten Jantschek. Auf: Deutschland Funk Kultur Online, 18.01.20. URL: <https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-andreas- reckwitz-plaedoyer-fuer-eine-abkuehlung-100.html> (Stand: 19.11.21)