Zeitlichkeitsnarrative präventiv vasektomierter Männer, die sich für einen kinderfreien Lebensentwurf entschieden haben.

In meiner Bachelorarbeit untersuchte ich soziale und subjektive Aspekte der Zeit im Kontext präventiver Vasektomien und kinderfreier Lebensentwürfe.

Zeitdiagnostischer Hintergrund und Inspiration für meine Fragestellung

In zunehmend funktional differenzierten Gesellschaften1 entsteht vor der fortschreitenden Pluralisierung der Lebensentwürfe, Beziehungsformen und Familienkonstellationen, ein gesellschaftliches Spannungsverhältnis2. Der Soziologe Armin Nassehi spricht daher von der Entstehung unterschiedlich nebeneinander existierender Zeitregime.3
In diesem Spannungsfeld existieren traditionelle Familienwerte und das Vater-Mutter-Kind(er)-Leitbild zur gleichen Zeit wie sinkende Geburtsraten und kinderfreie Lebensentwürfe, was gegenwärtig zu verschiedenen öffentlichen Diskussionen über die Kinderfrage – ob, wann und wie viele Kinder man haben möchte – führt. So berichteten in den letzten Jahren auch verschiedene Zeitungen über zunehmende Zahlen von Männern, die eine Vasektomie durchführen lassen (Abb. 1 und 2). Obschon die Zunahme statistisch nicht belegt ist, scheint die mediale Öffentlichkeit der Verhütungsmethode trotzdem Aufmerksamkeit zu schenken, auch im Kontext der Diskussion um die männliche Verantwortung für Verhütung.

Methodisches Vorgehen und Fragestellung

Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund wollte ich mich vertieft mit der Verhütungsmethode der Vasektomie auseinandersetzen. Ich wählte für mein Vorhaben einen subjektorientierten Ansatz. Durch halbstrukturierte Leitfaden Interviews mit drei Männern im Alter von 34 bis 43 Jahren aus verschiedenen Schweizer Städten sollte untersucht werden, wie individuelle Zeitwahrnehmungen neben zeitlichen Normen erlebt sowie Zukünfte imaginiert und geplant werden, bei Männern, die sich für einen kinderfreien Lebensentwurf entschieden und sich präventiv vasektomieren lassen haben. Dadurch sollten auch männliche Perspektiven auf die Themen Verhütung und Reproduktion beleuchtet werden, denen in der sozialwissenschaftlichen Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Zur thematischen Kontextualisierung meiner Analyse legte ich verschiedene Aspekte bisheriger sozialwissenschaftlicher Forschungen zu Vasektomien und kinderfreien Lebensentwürfen dar. Zudem stellte ich einige geisteswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Zeit und Zeitlichkeit vor, die die theoretische Grundlage meiner Analyse darstellten.

Wichtigste Erkenntnisse

Die Analyse der Interviews offenbarte verschiedene Aspekte des Zeitlichen, die in den Vorstellungen und Erzählungen meiner Gesprächspartner über ihre präventive Vasektomie und ihren kinderfreien Lebensentwurf präsent wurden; Die Vasektomie wurde einerseits als progressive, zeitgemässe Praxis verhandelt, wobei männliche Verantwortung für Verhütung und weitere Ideale neuer Männlichkeit entscheidend waren. Die Vasektomie wurde zudem in die Erzählung als Folge einer zeitlich linear biografischen Entwicklung eingebettet.


Themen der Synchronität und Asynchronität wurden zudem präsent, im Kontext divergierender Lebensläufe des sozialen Umfelds. Hierbei schien die Unvereinbarkeit einer Familienzeit4, mit der Zeit kinderfreier Lebensentwürfe, die ich als eigene Zeit konzeptualisiert habe, häufig besprochen zu werden.

Obschon meine Gesprächspartner allgemein von wenigen negativen Reaktionen auf die Entscheidung einer präventiven Vasektomie und eines kinderfreien Lebensentwurf berichteten, was sie selbst auch auf ihr progressives Umfeld zurückführten, zeigten sich verschiedene Sanktionierungsformen, aufgrund der zeitlichen Normverletzung5 der Männer. Diese waren häufig impliziterer Natur und hatten die Gemeinsamkeit, den Lebensentwurf und die Körperpraxis der präventiven Vasektomie als anders zu markieren. Die Männer schienen sich zudem verschiedener Vorurteile bewusst, die in Bezug auf kinderfreie Lebensentwürfe und Zukünfte bestehen, wie Reue und Einsamkeit, und banden diese in ihre Erzählungen mit ein.


Der Autonomieverlust über die eigene Zeit und auch über finanzielle Mittel wurde als Aspekt der Familienzeit und einer damit verbundenen Zukunft imaginiert und für den eigenen Zukunftsentwurf abgelehnt. Während einerseits individualisierte Zukunftsvorstellungen präsent waren, wurde andererseits familienübergreifende Kinderbetreuung in die Zukunftsvorstellungen der Männer inkludiert, die beispielsweise alle von Göttichindern (Patenkinder) berichteten.
Auch zukünftige ökologische Krisenszenarien waren in imaginativen Zukünften präsent und als wurden als moralische Gründe gegen eigene Kinder verhandelt.


Zuletzt erachte ich die Erkenntnis wichtig, dass die Vasektomie in den Narrativen der Männer als förderlich für die Erwartungssicherheit und das Gefühl des Kontrollerhalts besprochen wurde. Ich stellte daher die These auf, dass die Vasektomie das subjektives Sicherheitsgefühl steigere. Dies kann auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Offenheit der Zukunft moderner Gesellschaften gedeutet werden.

Quellenverzeichnis

  1. Vgl. Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag „Gegenwarten“. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008.
    ↩︎
  2. Vgl. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. München: 1998, S. 21. ↩︎
  3. Vgl. Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag „Gegenwarten“. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, 1. ↩︎
  4. Halberstam benennt eine bestimmte Art der Zeitlichkeit als Familienzeit. Diese bezieht sich auf eine normative Alltagsplanung, die in Einklang mit der Kindererziehung steht und wird von einer Reihe an Vorstellung beherrscht, was kindliche Bedürfnisse sind und was für Kinder gesund ist. (Vgl. Halberstam, J. Jack: In a Queer Time and Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York, London: New York University Press, 2005.) ↩︎
  5. Ich spreche an dieser Stelle von zeitlicher Normverletzung, da ich in meiner Arbeit aufzeigte, wie kinderfreie Lebensentwürfe gesellschaftlich als nicht normativ begriffen werden und bestimmte soziale Sanktionierungsformen erfahren. ↩︎

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