„Die Natur war ganz klar auch mein Spielplatz“

Eine empirische Forschung über das Kultur- und Naturverständnis in der Alltagswelt

Diese Arbeit hat zum Ziel, die Beziehungen zwischen Mensch, Kultur und Natur auf empirischer und theoretischer Ebene zu untersuchen. Dabei beleuchte ich das altbekannte Begriffspaar Natur/Kultur in einer historisch-vergleichenden Perspektive und untersuche es in verschiedenen theoretischen Denksystemen und Konzepten[1], denn jede kulturhistorische Zeitspanne hat ihre eigenen Deutungsmuster des Natur- und Kultur-Verständnisses. Um sich in das Thema zu vertiefen, ist es wichtig, verschiedenen Interpretationsebenen von Natur und Kultur nachzugehen: Wird Natur als wohlgesetzte göttliche Ordnung oder als bedrohliches Chaos, pure Gewalt, als Gegensatz zur Kultur, als etwas, was es zu bändigen gilt, aufgefasst?

Abbildung 1: Anonym: Gott konstruiert die Welt mit dem Zirkel. Miniatur 13. Jh.

Dient die Natur als Vorbild und Grundlage für gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Ordnungen? Wird Natur als Landschaft und Ländlichkeit im Unterschied zur Stadt und Verstädterung begriffen? Oder haben wir es mit einer hybriden Welt zu tun, in welcher die natürliche und die kulturelle Ordnung ineinander verschränkt sind, menschliche, nicht-menschliche Lebewesen und technische Entitäten als Akteur*innen auftreten und sich netzwerkartig verbinden? Das Verhältnis zwischen Natur und Kultur als Untersuchungsgegenstand blickt auf eine lange Tradition in der Kulturwissenschaft zurück, weswegen sich die Frage stellt, welche Relevanz es dann hat, dieses noch einmal zu untersuchen. Eine neuerliche Erforschung bietet sich an, da wir uns in einem neuen Erdzeitalter befinden, in welchem die Erde gravierende Veränderungen bzw. Zerstörung erfährt, welche auf menschlichen Einfluss zurückzuführen sind. Kurz gesagt: Willkommen im Anthropozän! Das Anthropozän macht deutlich, dass natürliche und soziokulturelle Phänomene zusammen gedacht werden müssen.

Abbildung 2: Das Bretherton-Diagramm zur Integriertheit der menschlichen Wirkungsmacht auf den Planeten in einer vereinfachten Darstellung.[2]

In den Zeiten des Anthropozäns, in der die menschliche Handlungsmacht einer Naturgewalt gleicht, wo der Mensch nicht nur als biologischer oder sozialer, sondern als ein geologischer Faktor fungiert «[…] und das Erdsystem in seiner Gesamtheit verändert, […] verliert die Scheidung von Natur und Kultur ihren Sinn»[3] – so Horn. Somit leitet das Anthropozän einen Perspektivenwechsel und einen Bruch ein mit den bisherigen Denkmustern in Bezug auf die Verhältnisse zwischen Natur und Kultur, zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und führt zu einer Aufhebung dieser dichotomischen Sichtweisen.

Empirischer Zugang

Der empirische Hauptfokus der Arbeit liegt auf dem Verhältnis von Mensch-Natur-Kultur in einem subjektiven Kontext. Dabei soll innerhalb subjektiver Deutungsmuster erforscht werden, wie sich z.B. diese Verhältnisse im gelebten Alltag manifestieren. Anhand leitfadengestützter Interviews wollte ich folgende Forschungsfragen beantworten: Wie artikulieren sich Natur-Mensch-Kultur-Beziehungen in der Lebenswelt der Akteure*innen? Was sagt die subjektive Deutung dieser Beziehungen über das gegenwärtige Mensch-Natur-Verhältnis aus? Den Fokus setzte ich auf den beruflichen Alltag. Aus diesem Grund traf ich eine Auswahl an Akteur*innen, welche auf verschiedene Weise in ihrem Berufsleben mit Natur in Berührung kommen. Die Interviewpartner*innen waren: 1) Ursula, eine Qi Gong-Lehrerin mit langjähriger Tanzerfahrung, 2) Kaspar, Umwelt-Naturwissenschaftler mit dem Tätigkeitsfeld Natur- und Landschaftsschutz, Erhalt und Förderung der Biodiversität, 3) Wu, eine Graphikdesignerin, die mit Biophilic Design arbeitet und deren Designkonzepte mehrheitlich von der Natur inspiriert sind und 4) Jonas, ein Hortbetreuer im Waldkindergarten, dessen Hauptkonzept darauf basiert, den Wald als Spielort für sinnliches Erfahren und motiviertes Lernen für Kinder zu nützen

Die Interview-Daten zeigen die persönliche Geschichte in Bezug auf Naturempfindungen, wie z.B. Kindheitserlebnisse. Die prägende Rolle der Kultur in der Wahrnehmung der Natur manifestiert sich besonders interessant im Fall der aus China stammenden Graphikdesignerin Wu. Sie spricht von einer asiatischen und einer europäischen Art, Natur wahrzunehmen. „Ich bin in Shanghai geboren. Ich kenne nur big City, City… und dann kam ich hier in die Schweiz… und ich musste wie so lernen wie man mit der Natur umgeht, also die erste Wanderung war für mich nicht lustig, oder ich konnte die Natur nicht wirklich geniessen, weil ich das nicht kannte.

Dabei zeigen die Erzählungen, wie das Nachgehen bestimmter Tätigkeiten Wissen und Verständnis von und über die Natur vertiefen. Die durch die Ausübung bestimmter Tätigkeiten erlangten Einsichten, der Wissensbestand, sowie das verkörperte Wissen führen zu unterschiedlichen Schwerpunkten in der Naturauffassung sowie im Zugang zur Natur. Die Natur als Inspiration und Basis für Designideen, grafische Konfiguration und Materialität (im Fall von Wu), Vertiefung in den eigenen Körper, langjährige Qi Gong Praxis und unmittelbare Erfahrungen darüber, wie sich Natur im eigenen Körper manifestiert, sowie Konzentration auf Sinneserfahrungen, Atem und Verbindung der körperlich-leiblichen und seelischen Dimensionen durch Erspüren und Beobachten (im Fall von Ursula), Zugang zur Natur einerseits auf der persönlichen Empfindungsebene und zugleich Beschäftigung mit der Natur auf naturwissenschaftlicher, ökologisch-umweltpolitischer und wirtschaftlicher Ebene, eine berufliche Praxis, um Natur mit der Intention zu erleben, mehr Raum sowie Lebensqualität für die Artenvielfalt zu schaffen und verschiedene Ökosysteme miteinander zu vernetzen (im Fall von Kaspar), Natur im Fokus pädagogisch-erzieherischer Tätigkeiten, Beobachtungen, wie sich die Kinder im Waldkindergarten, während sie in der Natur sind, entwickeln, was sie wahrnehmen und was sie von der Natur und in der Natur lernen (im Fall von Jonas). Anhand der Interviewdaten konnten die Verschränkungen von natürlichen und kulturellen, wirtschaftlichen und sozio-politischen Ordnungen sichtbar gemacht werden. Dabei betonen alle Interviewten die Rolle der wirtschaftlichen Präferenzen, des Konsums und des Profitdenkens in der Übernutzung und Zerstörung der Natur sowie die Rolle des Erziehungswesens für die Sensibilisierung im Umgang mit der Natur schon im Kindesalter.

Trotz eines komplexen Bildes des Forschungsfeldes und des Datenmaterials, lassen sich eine Tendenz des Naturverständnisses und Lösungsvorschläge für die aktuelle Umweltprobleme beobachten,

  1. Separation von der Natur, vor allem im Zuge des technischen Vorschritts. «Landwirtschaftliche und industrielle Revolution habe dazu beigetragen, dass der Mensch (sich) immer stärker, ja, als eben nicht ein Bestandteil der Natur wahrgenommen hat. Heute ist dieses Denken massiv in unserem Denken verankert», Kaspar. «Am Anfang der Menschheitsgeschichte war (der Mensch) ein Teil der Natur, er ist immer noch Teil der Natur, (aber) er ist nicht einfach ein Teil, der sich mitbewegt, sondern ist der Teil, der steuert», Jonas.
  2. Der Mensch als Teil der Natur: Interviewpartner*innen, welche die Separation des Menschen von der Natur ansprechen, formulieren als eine Lösung aus der Krisensituation, dass der Mensch wieder stärker als Teil der Natur wahrgenommen wird bzw. diese Sichtweise stärker ins Bewusstsein gerückt wird.
  3. Mit der Natur verbunden sein: Möglichst naturverbunden arbeiten, ist das Designkonzept von Wu. Dass die Menschen sich mit dem Anderen, mit der Umwelt verbunden fühlen und eine mitfühlende Haltung einnehmen, ist für sie entscheidend.
  4. Selbst die Natur seinLeib, die Natur, die wir selbst sind[4]: Diese Auffassung bietet noch eine weitere Möglichkeit, das Mensch-Natur-Verhältnis zu deuten. Das ist ein phänomenologischer Zugang zum Körper, eine bewusste Wahrnehmung davon, wie uns das Natursein durch unseren Leib geschieht. Welches ist besonders im Fall von Ursula in der gelebten Erfahrung der Qi Gong Praxis zu erkennen ist.

Abbildung 3: Mensch und Natur sind eins – Huang Yan: «Chinese Landscape – Tattoo, No. 7», 1999, C-Print

Quellen:

Böhme, Gernot. Leib: die Natur, die wir selbst sind. Berlin: Suhrkamp, 2019.

Horn, Eva und Hannes Bergthaller. Anthropozän zur Einführung. Hamburg: Junius, 2019.

ttps://www.researchgate.net/figure/The-Bretherton-diagram-simplified-version_fig2_257588246 – abgerufen am 2.4.2021

Schlagwörter: Natur, Kultur, Dichotomie, hybride Welt, Ökosysteme, Anthropozän, Naturalismus, Kulturalismus, Phänomenologie, anthropozentrische Wende, Ökologie, Artenvielfalt, Körper-Leib-Seele, sinnliche Wahrnehmung, Konsum, Umweltpolitik, wirtschaftlichen -und sozio-politischen Ordnungen.


[1] Hier sind gemeint: Naturkonzepte der Vormoderne und der Moderne, naturalistische, kulturalistische und phänomenologische Theorieansätze, anthropozentrische Wende und Akteur-Netzwerk Theorie.

[2] ttps://www.researchgate.net/figure/The-Bretherton-diagram-simplified-version_fig2_257588246 – abgerufen am 2.4.2021

[3] Horn 2019, S. 59.

[4] Böhme, Gernot. Leib: die Natur, die wir selbst sind, 2019.