Der Soziologe Hartmut Rosa entwickelte vor einigen Jahren in seiner Monografie Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2016)[1] aus dem physikalischen Resonanzphänomen eine sozialwissenschaftliche Kategorie zur Beschreibung von Beziehungsqualitäten, genauer gesagt von einem spezifischen Modus des In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt. Rosa versteht Resonanzerfahrungen als ein «momenthafter Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt»[2]. Im Bereich der Kunst entstehen Resonanzbeziehungen immer dann, wenn ein bestimmtes Werk die Rezipierenden zu berühren vermag. Diese Überlegungen stellen den Ausgangspunkt meiner Bachelorarbeit dar, in der ich mich der kulturanthropologischen Untersuchung von sinnlich-leiblichen und ästhetischen Resonanzerlebnissen mit Musik und Gesang widme. Als Musikbeispiele wählte ich Pop-Balladen auf Englisch, Deutsch und Koreanisch sowie ein kürzeres neoklassisches Instrumentalstück. Unterschiedliche Sprachen sollten es deshalb sein, weil ich annahm, dass der Grad der Vertrautheit mit der sprachlich-semantischen Ebene ein wichtiger Faktor beim Musikerleben sein könnte.

Musik und Weltverhältnis

Musikhören als Alltagspraktik bietet mehr, als nur ästhetische Erfahrungen: Es kann die existenziellen (Resonanz-)Sensibilitäten und Resonanzfähigkeiten der Menschen steigern, zur nachhaltigen Verbesserung ihrer subjektiven Weltverhältnisse beitragen und damit auch der zunehmenden Entfremdung entgegenwirken. Die Musik ist für viele zu einer wichtigen Resonanzsphäre geworden. Es ist nicht nur die Stimmung, die wir mit Musik beeinflussen können, es ist vielmehr die gesamte «Gestimmtheit», unsere aktuelle und situative Beziehung zur Welt, die sich beim Musikhören unter Umständen sehr schnell ändern kann. «Resonanz Management» durch Musik ist heute auch deshalb in gewissem Masse möglich, weil wir gezielt entscheiden und wählen können, was wir wann, wo und wie hören.

Aber wie genau können solche psychisch-emotionalen wie körperlichen «Be-Rührungs-momente» mit Vokal- und Instrumentalmusik erlebt und beschrieben werden? Und wie kann es gelingen, die subjektive Musikwahrnehmung und -rezeption in ihrer ganzen Vielschichtigkeit empirisch untersuchen und aufzeichnen zu können – wo doch das mit den Sinnen Wahrnehmbare, Empfindbare, Emotionale, Affektive und Imaginative meist gar nicht so leicht in Worte zu fassen ist?

Empirische Annäherungen an Musik- und Resonanzerlebnisse

Methodisch orientierte ich mich hierfür an systematischen Herangehensweisen zur strukturierten Erfassung von (Zu-)Hörerlebnissen, wie sie Patricia Jäggi in ihrer Auditiven Ethnographie zu Klang und Kulturpolitik des internationalen Radios (2020)[3] aufzeigt und durchführt. Mit Auto- und auditiv-sinnlicher Ethnographie, also im Grunde aktiv teilnehmend-beobachtend, können auch die sinnlich-leiblichen Aspekte des Musikerlebens beobachtbar und analysierbar gemacht werden. Zum einen arbeitete ich mit einfachen und (tabellarischen) komplexen Wahrnehmungsprotokollen – komplex deshalb, weil dabei die Musik unter Anwendung verschiedener Hörmodi (strukturell, kausal, semantisch, reduziert und assoziierend) mehrfach angehört wurde. Zum anderen führte ich zwei kollektive Hörexperimente (mit einer Fünfer- und einer Zweiergruppe) mit anschliessendem Gespräch durch (informeller Austausch, Möglichkeit für Anmerkungen, Rückmeldungen und Diskussionen). Das gesamte Experiment hindurch beobachtete ich jeweils die Teilnehmer*innen und hielt fest, ob auch innere Reaktionen und Regungen im Aussen ersichtlich waren – eine mögliche (unwillkürliche) Reaktion auf die «Einschwingung» kann z.B. ein «Sich-mit-der-Musik-mitbewegen» sein – und ob irgendeine Art von Interaktion unter den Partizipierenden stattfand.

Die Teilnehmer*innen der Hörexperimente sollten ihre Reaktionen auf das Gehörte, ihre auditiven, visuellen, taktilen und olfaktorischen/gustatorischen Wahrnehmungen, all ihre Assoziationen, Empfindungen und Eindrücke möglichst unzensiert notieren oder bildlich darstellen. Die – mangels einer adäquateren Bezeichnung von mir so genannten – «Aufgabenblätter» wurden wie folgt gestaltet:

Auf diese Weise erhielt ich einen Einblick in die multisensorischen, synästhetischen Musik- und Resonanzerlebnisse anderer und konnte diese mit den eigenen vergleichen.

Spannende Ergebnisse

Die Entitäten, die an einer musikalischen Resonanzbeziehung beteiligt sind – hier wären das primär Künstler*in bzw. Interpret*in, Musik bzw. Komposition und Rezipient*in – können je nach Individuum und situativem Weltverhältnis auf verschiedenste und oft auch unerwartete Weisen «miteinander schwingen» und so Resonanzerfahrungen von unterschiedlicher Intensität, Art, Form und Ausprägung hervorrufen. «Be-Rührungsmomente», beruhend auf dem Gehörten, dem beim Zuhören Wahrgenommenen, Empfundenen oder auch «Wiedererkannten» (Identifizierung) und «Reaktivierten» (Erinnerungen), können sich auf diverse psychisch-emotionale und/oder physische Arten manifestieren. Die Musik kann auch Auswirkungen auf den eigenen Herzschlag, die Körpertemperatur oder Atmung haben, was beispielsweise eine insgesamt «entspanntere Weltbeziehung» zur Folge haben kann.

Welche Sinne nebst dem Hörsinn beim Musikhören besonders beteiligt sind, scheint im Allgemeinen personen- und musikabhängig zu sein. Generell spielen aber neben hör-biografischen offenbar auch «seh-biografische» Bezüge für das individuelle Musikerlebnis eine wichtige Rolle. Bei den imaginären «Kopfkino-Sequenzen» (als eine mögliche Reaktion auf die Musik) scheinen ausserdem Musikvideo-, Drohnenfilm- und andere filmische Einflüsse im Spiel zu sein. Musikbeispiel-übergreifend werden auch immer wieder Natur- und Landschaftsszenerien beschrieben, was darauf hindeutet, dass beim Musikhören potenziell auch weitere Resonanzsphären involviert werden. Die Wahrnehmung spezifischer Farben scheint jeweils mit inneren (Sinn-)Bildern zusammenzuhängen oder eine Reaktion auf musikalische Besonderheiten und vermittelte Stimmungen zu sein.

Die subjektiven, notizartigen Beschreibungen der synästhetischen Musik- und Resonanzerlebnisse wiesen vokabularisch wie inhaltlich viele Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten auf, auch bei der instrumentalen oder der (personenbedingt) fremdsprachigen Musik. «Be-Rührungsmomente» oder Gefühle des «Angesprochenseins» wurden immer wieder durch dieselben oder sehr ähnliche musikalisch-instrumentale und stimmlich-gesanglich-textliche Elemente, Eigenschaften, Sinnes- und Ausdrucksqualitäten ausgelöst, oder auch durch ein «empathisches Mitfühlen» bzw. ein Einfühlen in die jeweiligen Interpret*innen (oder in die Musik).

Das «Wie» von Gesang und Musik ist oftmals entscheidender als das «Was». Als Auslöser lassen sich immer wieder Besonderheiten, Dynamiken oder plötzliche Veränderungen in der Musik oder im Gesang bezüglich Lautstärke (manchmal im Zusammenhang mit der Bassstärke), «Textur»/«Färbung», Kraft und «(Klang-)Masse», Tonhöhe oder -länge und Tempo eruieren, aber auch eine «harmonische Mehrstimmigkeit», das Harmonieren der Stimmen oder des Gesangs im Zusammenspiel mit der Musik, eine bestimmte Melodie oder das Spiel einzelner Instrumente kann berühren. All diese Aspekte können in der Kombination die Wahrnehmung einer «Steigerung» ausmachen oder sich auf die Empfindung des «Eindringlichkeitsgrads» der Musik auswirken.


[1] Die resonanztheoretischen Ausführungen in diesem Beitrag beruhen auf Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, 2016.

[2] Ebd., 290.

[3] Jäggi, Patricia: Im Rauschen der Schweizer Alpen. Eine auditive Ethnographie zu Klang und Kulturpolitik des internationalen Radios (Musik und Klangkultur, 46). Diss. Basel/ Bielefeld: transcript, 2020.